Sternstunde der Liebe (German Edition)
Rumer saß reglos da und beobachtete stumm das Geschehen. Die anderen versorgte sie nach wie vor, aber sie kehrte den beiden Schwächsten den Rücken zu und überließ sie ihrem Schicksal, in einer Ecke des Käfigs.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen; Rumer war schon lange wach gewesen, angespannt, hatte sich gewünscht, Zeb möge erscheinen. Allein bei dem Gedanken erfasste sie ein Schwindel. Daran war seine physische Nähe schuld. Sie fragte sich, ob er genauso schlecht geschlafen hatte wie sie, ob er das Band zwischen ihnen spürte, das wie ein goldener Faden glühte – nicht mehr brandneu, aber auch kein schwacher Abklatsch dessen, was früher einmal gewesen war.
Seufzend verstaute Rumer die Kaninchen im Wagen und fuhr zu ihrer Praxis an der Shore Road. Vor Jahren hatte an dieser Wegbiegung eine dunkelbraune Scheune gestanden, die als Stall für ein braun-weiß geschecktes Pferd diente, das von Sixtus jedes Mal scherzhaft als »Old Paint« bezeichnet wurde, wenn sie vorüberfuhren. Rumer hatte Pferde geliebt, so lange sie denken konnte, und das gescheckte gehörte zu den ersten, an die sie ihr Herz verlor.
Rumer hatte die Scheune und das umliegende Land gekauft, doch im zweiten Jahr nach dem Besitzerwechsel war sie durch ein Unwetter dem Erdboden gleichgemacht worden. Sie erinnerte sich nun daran; ihr Blick schweifte unruhig zu der Stelle hinüber, an der sie gestanden hatte. Das nackte Holzgerippe, das stehen geblieben war, glich einer abstrakten Skulptur.
Als Rumer ihre Praxis aufgeschlossen hatte, holte sie eine kleine Babyflasche und einige Büchsen mit Säuglingsnahrung für Tiere heraus. Auf ihrem Schreibtisch lag eine Nachricht, die Mathilda gestern Abend für sie hinterlassen hatte: »Edward hat angerufen.«
Rumer steckte den Zettel in ihre Tasche. Sie wickelte eines der kleinen Kaninchen in einen Waschlappen und fütterte es mit der Flasche, die sie erwärmt hatte. Danach kamen die anderen an die Reihe, und zu guter Letzt machte sie eine Visite bei ihren stationären Patienten – einem frisch operierten Bordercollie, zwei Katzen, die kastriert worden waren, und einem Beagle, der unter Flüssigkeitsmangel litt.
Um sieben Uhr war sie fertig, eine Stunde, bevor Mattie zur Arbeit erscheinen würde. Sie reckte sich, spürte die Energie, die sich aufgestaut hatte, seit sie sich danach sehnte, Zeit mit Zeb allein zu verbringen. Jedes Mal, wenn es so weit war, hatte ihnen irgendeine Katastrophe einen Strich durch die Rechnung gemacht. Gefällte Bäume, aggressive Kammerjäger. Was würde als Nächstes kommen?
Da ihr nur eine Möglichkeit einfiel, die Anspannung zu lockern, stieg sie in ihren Truck und fuhr nach Norden, um Blue einen Besuch abzustatten. Ihr blieb gerade genug Zeit, eine Runde zu reiten und ein paar Worte mit Edward zu wechseln, bevor sie in die Praxis zurückkehrte.
An der Peacedale Farm angekommen, bog sie in die steinige Auffahrt ein. Edward war nirgendwo zu sehen – normalerweise war er um die Zeit immer schon auf –, aber die Schlafzimmerfenster im ersten Stock waren geöffnet, die Baumwollvorhänge wehten leicht im Wind. Sie tätschelte einige der Stallkatzen, dann überquerte sie den Hof und ging zur Steinmauer, wo Blue schon auf sie wartete.
»Bereit für einen kleinen Ausritt? In aller Frühe, zum Fluss hinunter?«, sagte sie zur Begrüßung.
»Rumer?«
Beim Klang ihres Namens fuhr sie herum. Edward stand da, die Hände in den Taschen seiner alten Kakihosen. Sie schluckte, erinnerte sich an ihren letzten gemeinsamen Abend, an ihr Verhalten nach der Begegnung mit Zeb bei der Hochzeit von Dana und Sam.
»Hallo, Edward.« Sie ging auf ihn zu. »Wie geht’s?«
»Gut«, sagte er in seinem verhaltenen, nasalen Neuengland-Tonfall. »Und dir?«
»Auch gut.«
Ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht, und Rumers Lächeln erstarb. Sie konnte sehen, dass er schlechte Nachrichten hatte. »Was ist los, Edward?«
»Hab dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«
»Ich weiß.«
»Sieht so aus, als wärst du ziemlich beschäftigt gewesen. Blue hat sich bestimmt gewundert …«
»Für Blue habe ich immer Zeit. Ich war jeden Tag hier.«
»Immer dann, wenn du mit einiger Sicherheit annehmen konntest, dass ich nicht zu Hause sein würde?«
»Ach, Edward.«
»Verbringst du viel Zeit mit Zeb?«
»Nicht viel. Aber hin und wieder schon.«
»Das lässt sich wohl nicht vermeiden, nehme ich an. Wenn man bedenkt, wie viele gemeinsame Erinnerungen euch verbinden. Es
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