Sterntaler: Thriller (German Edition)
er sich selbst oder jemand anderem schadete. Er war sich und anderen immer im Weg. Linkisch und grobmotorisch, und das nicht nur wegen des Alkohols, sondern auch von Natur aus.« Johan Aldrin nahm Fredrika das Passbild aus der Hand. »Er ist gestolpert und mit dem Nacken auf der Spitze eines Ankers aufgeschlagen. Es regnete aus Kübeln in jener Nacht, und er hat sich, besoffen wie er war, nicht auf dem glitschigen Deck halten können.«
»Das heißt, er rutschte aus und brach sich das Genick?«
»Schlimmer. Die Ankerspitze drang direkt unter dem Kopf in seinen Nacken ein. Als ich ihn fand, war er schon tot. Es war nichts mehr zu machen.«
»Was haben Sie dann getan?«, fragte Alex. Er sah die Szene vor sich. Nacht, schwarzer Himmel. Strömender Regen und schlechte Sicht. Und dann der Alkohol– keine gute Kombination, ganz gleich welchen Dienst man auf einem Schiff verrichtete.
»Ich habe ihn über Bord geworfen.« Johan Aldrin sagte es ohne das geringste Zögern. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Kein Mensch würde ihn vermissen. Und ich brauchte dringend eine neue Identität. Also warf ich ihn ins Meer. Am nächsten Tag gingen wir in einem neuen Hafen vor Anker. In Sydney. Niemand von der Besatzung vermisste ihn, ehe der Nachmittag kam und ich nach der Nachtschicht aufwachte. Ich musste nur sagen, ich hätte ihn unsere Kajüte am Vormittag verlassen hören, wüsste aber nicht, wohin er gegangen sei. Dann log ich ein letztes Mal und behauptete, er hätte mal erwähnt, dass er in Australien bleiben wollte. Er hätte erwogen, das Schiff zu verlassen, wenn wir dort anlegten. Vermutlich hätte er heimlich abhauen wollen, denn wir waren ja eigentlich an Verträge gebunden.« Aldrin zuckte mit den Schultern.
»Hat man Ihnen die Geschichte abgekauft?«, fragte Fredrika.
»Was sollten sie denn tun? Zwei Tage später liefen wir aus Sydney aus. Der Kapitän war stinkwütend. Nannte Valter einen Verräter. Er wurde nicht als vermisst gemeldet, weil alle annahmen, dass es so wäre, wie ich gesagt hatte. Dass er in Sydney an Land gegangen wäre, um in Australien neu anzufangen.«
Alex legte bedächtig den Stift weg, den er in der Hand hatte. »Haben Sie nie darüber nachgedacht, ob das, was Sie da getan hatten, falsch war?«
»Doch, sehr oft. Wenn er noch Eltern oder irgendeinen anderen Menschen gehabt hätte, der sich um ihn gesorgt hätte, dann hätte ich es wohl auch nicht getan.«
»Aber er hatte einen Menschen, der sich um ihn sorgte«, sagte Fredrika aufgebracht. »Er hatte einen Onkel in Gol. Der alte Mann geht bis heute Jahr für Jahr zur Polizei und fragt nach seinem Neffen.«
Johan Aldrin sah Fredrika lange an. »Deshalb haben Sie also gefragt, ob ich in letzter Zeit mal meinen Onkel getroffen hätte.«
Sie antwortete nicht, sondern betrachtete Johan Aldrin schweigend. Wem war er ähnlich? Seiner Mutter oder seinem Vater? Er hatte die großen Augen seiner Mutter, aber die Nase war von jemand anderem.
»Warum brauchten Sie eine neue Identität? Was war so schlimm daran, Thea Aldrins Sohn zu sein?«
»Ah. Die zentrale Frage, da ist sie.« Aldrin faltete die Hände auf dem Tisch und schien zu überlegen, wie er weitermachen sollte. »Sagen Ihnen Merkurius und Asteroid etwas?«
Fredrika und Alex nickten kurz. Die viel diskutierten Bücher waren ihnen inzwischen mehr als bekannt.
»So ging es mir auch«, sagte Aldrin. »Das ganze Land sprach davon. In der Schule grinsten sie hinter meinem Rücken und sagten, dass meine Hure von einer Mutter sie geschrieben hätte. Die wäre ja krank im Kopf. Ich war den ganzen Scheiß so leid. Seit ich klein war, hatte ich meine Mutter immerzu verteidigen müssen, immerzu allein, oft gegen mehr als einen Gegner. Doch trotz meiner Loyalität weigerte sie sich, auf meine Fragen zu antworten. Sie sagte, ich würde ja ohnehin nicht verstehen, warum mein Vater uns verlassen hatte, und ich wäre zu jung, als dass man mich mit solch einer schrecklichen Geschichte belasten durfte. Verstehen Sie?« Er sah Fredrika und Alex an. »Sie deutete an, dass es da eine ›schreckliche Geschichte‹ gäbe, doch mehr sagte sie nicht. Nun können Sie sich ja selbst ausmalen, mit welchen Vorstellungen ich mich trug. Wie auch immer, eines Tages war ich auf dem Dachboden und suchte nach einer Reisetasche, die zu holen sie mich gebeten hatte. Sie hatte viele gute Seiten, doch war sie nicht gerade ein ordentlicher Mensch, und auf dem Dachboden war ein heilloses Durcheinander aus Kartons und
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