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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Bromios Wachdienst. Harold Crutchbeck war der Sohn des Müllers, ein stämmiger junger Mann, ein paar Jahre älter als Tristran. Mr. Bromios hatte schwarze, lockige Haare, seine Augen waren grün, beim Lächeln blitzten weiße Zähne, und er roch nach Trauben und Traubensaft, nach Gerste und Hopfen.
    Dunstan Thorn ging zu Mr. Bromios, der dastand und mit den Füßen stampfte, um sie warm zu halten.
    »Guten Abend, Mister Bromios. Guten Abend, Harold«, sagte Dunstan.
    »Guten Abend, Mister Thorn«, antwortete Harold.
    »Guten Abend, Dunstan«, antwortete Mr. Bromios. »Ich hoffe, es geht Euch gut?«
    Dunstan bestätigte, es gehe ihm gut, und die beiden Männer unterhielten sich eine Weile übers Wetter, stellten einhellig fest, es sehe schlecht aus für die Bauern und würde, der Menge der Beeren an Stechpalmen und Eibe nach zu urteilen, wohl einen langen harten Winter geben.
    Tristran hörte zu und fühlte sich immer verwirrter und enttäuschter, aber er biß sich auf die Lippen und schwieg.
    Endlich sagte sein Vater: »Mr. Bromios, Harold – ich denke, ihr kennt beide meinen Sohn Tristran?« Nervös lüftete Tristran seinen Bowler.
    Doch was nun folgte, verstand er überhaupt nicht.
    »Ich nehme an, ihr wißt beide, wo er hergekommen ist«, fuhr Dunstan Thorn fort.
    Mr. Bromios nickte stumm.
    Harold Crutchbeck meinte, er habe Gerüchte gehört, aber darauf solle man ja nie allzuviel geben.
    »Nun, diese Gerüchte entsprechen der Wahrheit«, erklärte Dunstan. »Und jetzt ist es Zeit für ihn zurückzukehren.«
    »Es gibt da einen Stern…«, mischte Tristran sich ein, aber sein Vater bedeutete ihm zu schweigen.
    Mr. Bromios rieb sich das Kinn und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Nun gut«, sagte er, wandte sich zu Harold um und sprach so leise mit ihm, daß Tristran ihn nicht verstehen konnte.
    Als er fertig war, drückte Dunstan seinem Sohn etwas Kaltes in die Hand.
    »Zieh deiner Wege, Junge. Geh und hole deinen Stern. Möge Gott dich behüten und all seine Engel mit dir sein.«
    Da traten Mr. Bromios und Harold Crutchbeck, die Wachen an der Mauer, beiseite, um Tristran durchzulassen.
    Tristran ging durch die Öffnung in der Steinmauer und hinaus auf die Wiese auf der anderen Seite.
    Zögernd drehte er sich noch einmal zu den drei Männern um, die in der Mauerlücke standen, und fragte sich, warum sie ihn wohl durchgelassen hatten.
    Doch dann zog Tristran Thorn los und stieg, in der einen Hand die Tasche, in der anderen den Gegenstand, den sein Vater ihm zugesteckt hatte, den Hügel hinauf, zum Wald.
     
     
    * * *
     
    Während er dahinschritt, wurde die Nachtkühle immer weniger streng, und als er auf dem Gipfel des bewaldeten Hügels ankam, entdeckte Tristran zu seiner Überraschung, daß der Mond durch eine Lücke in den Bäumen hell auf ihn herabschien – dabei war er doch eine Stunde zuvor untergegangen und noch dazu als schmale Silbersichel! Dagegen war der Mond, der nun auf ihn herunterschien, ein riesiger, goldener Erntemond; rund und voll schien er mit kräftigem Licht.
    Der kalte Gegenstand in seiner Hand bimmelte – ein kristallenes Klimpern wie die Glocken einer winzigen Glaskathedrale. Er öffnete die Hand und hielt ihn ins Mondlicht.
    Es war ein Schneeglöckchen, ganz aus Glas.
    Ein warmer Wind strich über Tristrans Gesicht: Er roch nach Pfefferminz, Johannisbeerblättern und roten, reifen Pflaumen. Auf einmal wurde Tristran Thorn sich der Tragweite dessen bewußt, was er getan hatte. Er war unterwegs ins Feenland, auf der Suche nach einer Sternschnuppe, ohne die geringste Ahnung, wie er den Stern finden oder wie er während dieses Unterfangens für sich und seine Sicherheit sorgen sollte. Er blickte zurück und meinte, die Lichter von Wall hinter sich ausmachen zu können, unstet und schimmernd wie in aufsteigender Hitze, aber dennoch freundlich und einladend.
    Er wußte, wenn er umkehren würde und zurückginge, würde ihn niemand deshalb verachten – weder sein Vater noch seine Mutter, ja, selbst Victoria Forester würde ihn das nächste Mal wahrscheinlich nur anlächeln und ihn wie üblich »Ladenjunge« nennen. Vielleicht würde sie noch hinzufügen, daß Sternschnuppen meist sehr schwer zu finden sind.
    Einen Augenblick hielt Tristran inne.
    Er dachte an Victorias Lippen, an den Klang ihres Lachens. Entschlossen straffte er die Schultern und steckte das Schneeglöckchen ins oberste Knopfloch seines Mantels, den er jetzt offen trug. Zu unwissend, um Angst zu empfinden, und zu

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