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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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den Stern bringe?« fragte Tristran leichthin. »Was würdest du mir dafür geben? Einen Kuß? Deine Hand zum Eheversprechen?«
    »Alles, was du willst«, antwortete Victoria leichthin.
    »Schwörst du das?« vergewisserte sich Tristran.
    Unterdessen befanden sie sich nur noch hundert Meter vom Farmhaus der Foresters entfernt. Lampenlicht ergoß sich aus den Fenstern, gelb und orange.
    »Selbstverständlich«, sagte Victoria und lächelte.
    Der Weg zur Farm war von den Hufen der Pferde, Kühe, Schafe und den Pfoten der Hunde aufgewühlt und schlammig. Aber Tristran Thorn kniete sich in den Schmutz, ohne auf seinen Mantel und die Hose aus gutem Wollstoff zu achten. »Na schön«, sagte er.
    Jetzt blies der Wind aus dem Osten.
    »Hier verlasse ich dich, meine Herzensdame«, sagte Tristran Thorn, »denn ich habe dringende Geschäfte drüben im Osten zu erledigen.« Damit stand er auf, Schlamm und Dreck an Knien und Mantel, verneigte sich vor ihr und lüftete seinen Bowlerhut. Victoria lachte von Herzen über den mageren Ladenjungen, und ihr Lachen folgte ihm den Hügel hinab und in die Ferne.
     
    Tristran Thorn rannte den ganzen Weg nach Hause. Dornen griffen nach seinen Kleidern, und ein Ast schlug ihm den Hut vom Kopf.
    Atemlos und zerzaust stolperte er in die Küche des Hauses auf den westlichen Wiesen.
    »Wie siehst du denn aus!« rief seine Mutter. »Also wirklich! Das ist doch nicht zu glauben!«
    Tristran lächelte sie nur an.
    »Tristran?« fragte sein Vater, der mit fünfunddreißig Jahren immer noch mittelgroß und sommersprossig war, auch wenn sich in seine nußbraunen Locken mehr als nur ein paar Silberhaare eingeschlichen hatten. »Deine Mutter spricht mit dir, hast du sie nicht gehört?«
    »Entschuldigt, Vater, Mutter«, sagte Tristran, »aber ich werde das Dorf noch heute abend verlassen. Ich werde einige Zeit weg sein.«
    »Das ist doch albern und dumm!« meinte Daisy Thorn. »So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört.«
    Doch Dunstan Thorn sah den Blick in den Augen seines Sohnes. »Laß mich mit ihm reden«, sagte er zu seiner Frau. Sie sah ihn scharf an, nickte aber dann. »Nun gut«, sagte sie. »Aber wer soll den Mantel des Jungen flicken? Das möchte ich gern wissen.« Damit eilte sie aus der Küche.
    Das Küchenfeuer sprühte Silberfunken und schimmerte grün und violett. »Wohin willst du gehen?« fragte Dunstan.
    »Nach Osten«, antwortete sein Sohn.
    Nach Osten. Dunstan nickte. Es gab zwei Arten von Osten – nach Osten ins benachbarte Land, durch den Wald, und nach Osten auf die andere Seite der Mauer. Dunstan Thorn brauchte nicht zu fragen, welchen Osten sein Sohn meinte.
    »Wirst du zurückkommen?« fragte der Vater.
    Tristran grinste breit. »Selbstverständlich«, antwortete er.
    »Nun, dann ist es in Ordnung«, sagte sein Vater. Er kratzte sich an der Nase. »Hast du dir schon überlegt, wie du durch die Mauer kommen willst?«
    Tristran schüttelte den Kopf. »Ich finde schon eine Möglichkeit«, meinte er. »Wenn nötig, kämpfe ich mich an den Wachen vorbei.«
    »Nein, du wirst nichts derartiges tun«, widersprach sein Vater. »Wie würde dir das gefallen, wenn du Wachdienst hättest, oder ich? Ich will nicht, daß jemand verletzt wird.« Erneut kratzte er sich an der Nase. »Geh und pack eine Tasche zusammen, gib deiner Mutter einen Abschiedskuß, und dann begleite ich dich hinunter ins Dorf.«
    Also packte Tristran seine Siebensachen. Seine Mutter brachte ihm sechs reife rote Äpfel und ein Bauernbrot und einen runden weißen Bauernkäse; die Sachen legte er obenauf in die Tasche, küßte seine Mutter auf die Wangen und sagte ihr Lebewohl. Dann wanderte er mit seinem Vater ins Dorf.
    Als Tristran sechzehn geworden war, hatte er zum ersten Mal Wache geschoben. Damals hatte man ihm nur eine einzige Anweisung gegeben: Der Wachposten sollte nach Möglichkeit niemanden aus dem Dorf durch die Öffnung in der Mauer lassen. Sollte dies den beiden Wachen einmal nicht möglich sein, müßten sie Hilfe aus dem Dorf herbeiholen.
    Unterwegs überlegte Tristran, was sein Vater wohl vorhatte. Vielleicht konnten sie zusammen die Wache überwältigen. Vielleicht würde sein Vater sie irgendwie ablenken, so daß Tristran ungehindert durchschlüpfen konnte. Vielleicht…
    Bis sie das Dorf durchquert hatten und an der Maueröffnung ankamen, hatte Tristran in Gedanken jede Möglichkeit durchgespielt, außer der, die schließlich Wirklichkeit wurde.
    An diesem Abend hatten Harold Crutchbeck und Mr.

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