Sternwanderer
jung für heilige Scheu, durchwanderte Tristran Thorn die Wiesen und Felder, die wir bereits kennen…
… und marschierte immer tiefer hinein ins Feenland.
KAPITEL 3
In dem wir mehreren anderen Personen begegnen,
von denen viele noch am Leben sind und ein Interesse
am Verbleib des vom Himmel gefallenen Sterns haben
Die Festung Stormhold war aus dem Gipfel des Mount Huon gemeißelt worden vom ersten Lord von Stormhold, der vom Ende des Ersten Zeitalters bis in das Zweite Zeitalter hinein regierte. Von den nachfolgenden Herren von Stormhold wurde die Festung vergrößert und verbessert, der Fels weiter abgetragen und mit Tunneln versehen, bis der ursprüngliche Gipfel wie der kunstvoll geschnitzte Stoßzahn eines riesigen, grauen Granittiers in den Himmel ragte. Stormhold selbst thronte hoch in den Lüften, dort, wo die Gewitterwolken sich zusammenballten, ehe sie weiterzogen und Regen, Blitz und Zerstörung über die Niederungen brachten.
Der einundachtzigste Lord von Stormhold lag im Sterben, in seinem Gemach, das wie ein Loch in einem faulen Zahn aus der höchsten Spitze des Berges gemeißelt war. Auch in den Ländern jenseits der uns bekannten Gefilde gibt es also immer noch den Tod.
Nun rief der Lord seine Kinder zu sich an sein Sterbebett, und sie kamen, die Lebenden und die Toten, und fröstelten in den kalten Hallen aus Granit. Sie scharten sich um das Bett ihres Vaters und warteten respektvoll, die Lebenden zu seiner Rechten, die Toten zu seiner Linken.
Vier seiner Söhne waren tot: Secundus, Quintus, Quartus und Sextus. Bewegungslos standen sie da, graue Gestalten, substanzlos, stumm.
Drei Söhne waren noch am Leben: Primus, Tertius und Septimus. Sie standen rechts im Gemach. Sie waren robuste Männer, die unbehaglich von einem Fuß auf den anderen traten und sich an Wangen und Nasen kratzten, als fühlten sie sich beschämt von der ruhigen Gelassenheit ihrer toten Brüder. Dabei vermieden sie es strikt, zu diesen hinüberzusehen, und bemühten sich so zu tun, als wären sie und ihr Vater allein in dem kalten Raum, dessen Fenster Löcher im Granit waren, durch die der eisige Wind hereinpfiff. Ob sie ihre toten Brüder wirklich nicht sehen konnten, oder sie die Toten absichtlich ignorierten – ob aus schlechtem Gewissen oder aus Angst vor Entlarvung oder vor Gespenstern überhaupt – das konnte ihr Vater nicht beurteilen. (Jeder der Überlebenden hatte einen seiner Brüder ermordet, außer Septimus, der sowohl Quintus als auch Sextus auf dem Gewissen hatte: Ersteren hatte er mit einer gut gewürzten Aalsuppe ins Jenseits befördert, letzteren weniger kunstvoll, aber ebenso effizient mit Hilfe der Schwerkraft, indem er ihn eines Abends von einer Klippe schubste, von der aus sie ein Gewitter weit unten in der Niederung beobachtet hatten.)
Insgeheim hatte der einundachtzigste Lord gehofft, daß sechs der jungen Herren von Stormhold tot sein würden, wenn er das Zeitliche segnete, und nur noch einer seiner Söhne am Leben wäre. Dieser eine konnte dann der zweiundachtzigste Lord von Stormhold und Master der High Crags werden; immerhin hatte er selbst den Titel vor einigen hundert Jahren auf diese Weise bekommen.
Aber die heutige Jugend war ein verweichlichtes Volk und hatte nichts mehr von der Entschlossenheit, dem Schwung und der Energie, an die er sich aus jungen Tagen erinnerte…
Einer von ihnen sagte etwas. Er zwang sich zuzuhören.
»Vater«, wiederholte Primus mit tiefer, dröhnender Stimme. »Wir sind alle gekommen. Was möchtest du von uns?«
Der alte Mann starrte ihn an. Mit einem gespenstischen Rasseln sog er die dünne, kühle Luft in die Lungen und erwiderte dann, kalt wie der Granit: »Ich liege im Sterben. Bald ist meine Zeit abgelaufen, und ihr werdet meine sterbliche Hülle tief in den Berg zur Ahnenhalle bringen, um sie – das heißt, mich – in die einundachtzigste Grube zu legen. Dort werdet ihr mich verlassen. Falls ihr all das nicht tut, seid ihr verflucht, und der Turm von Stormhold wird wanken und einstürzen.«
Seine drei überlebenden Söhne sagten nichts. Doch ein Murmeln kam von der Seite der vier Toten: Vielleicht äußerten sie ihre Trauer darüber, daß ihre Überreste von Adlern verspeist oder von reißenden Flüssen fortgerissen, über Wasserfälle hinab und ins Meer getragen worden waren und nie in der Ahnenhalle ruhen würden.
»Nun zum Problem der Nachfolge.« Die Stimme des Lords war von einem mühsamen Pfeifen begleitet, als würde Luft
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