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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Wiesenbach gründlich aus. Dann rannte er Hals über Kopf los, über die Wiese in Richtung Dorf.
    An diesem Morgen standen Reverend Myles, der Pfarrer von Wall, und Mr. Bromios, der Gastwirt, Wache. Zwischen ihnen sah Tristran eine junge Frau, die der Wiese den Rücken zuwandte. »Victoria!« rief Tristran voller Freude, aber da drehte sich die junge Dame um, und er erkannte, daß es nicht Victoria Forester war. (Plötzlich erinnerte er sich wieder, daß diese graue Augen hatte. Jawohl, grau waren sie. Wie hatte er das nur vergessen können?) Wer diese junge Frau mit ihrem feinen Häubchen und ihrer feinen Stola sein mochte, wußte Tristran nicht. Aber es traten Tränen in ihre Augen, als sie ihn erblickte.
    »Tristran!« rief sie. »Du bist es wirklich! Sie haben gesagt, du wärst hier. Wie konntest du nur? Ach, wie konntest du nur?« Nur allmählich wurde Tristran klar, daß sie tatsächlich ihm Vorwürfe machte.
    »Louisa?« sagte er, da er seine Schwester zu erkennen glaubte. »Du bist wahrhaftig ordentlich gewachsen, während ich nicht da war – aus einem kleinen Mädchen ist eine hübsche junge Dame geworden.«
    Sie schniefte und schneuzte sich in ein leinenes Spitzentaschentuch, das sie aus dem Ärmel zog. »Und du«, sagte sie, während sie sich die Tränen von den Wangen tupfte, »du hast dich auf deiner Reise in einen wuschelhaarigen verkommenen Zigeuner verwandelt. Aber du siehst gesund aus, und das ist gut. Komm jetzt«, fuhr sie fort und gab ihm mit einem ungeduldigen Winken zu verstehen, er solle endlich die Mauer passieren und ihr folgen.
    »Aber die Mauer…« sagte er und beäugte den Gastwirt und den Pfarrer ein wenig nervös.
    »Oh, als Wystan und Mister Brown gestern nacht mit ihrer Schicht fertig waren, haben sie sich in die Schankstube der Siebenten Elster zurückgezogen, und dort hat Wystan dann beiläufig erwähnt, daß sie einem völlig zerlumpten Kerl begegnet wären, der behauptete, er wäre du, und wie sie dem Kerl den Durchgang verweigert hätten – wie sie dir den Durchgang versperrt hätten. Als die Neuigkeit unserem Vater zu Ohren kam, ist er gleich in die Elster spaziert und hat den beiden eine solche Standpauke gehalten, daß ich ihn kaum wiedererkannt habe.«
    »Einige waren dafür, Euch gleich heute früh zurückkommen zu lassen«, fügte der Pfarrer hinzu, »andere wollten bis Mittag warten.«
    »Aber keiner von denen, die Euch warten lassen wollten, hat heute morgen Wachdienst«, ergänzte Mr. Bromios, »was natürlich ein gewisses Maß an Organisation erforderte – und das ausgerechnet an einem Tag, an dem ich mich um den Erfrischungsstand kümmern müßte, möchte ich betonen. Aber es ist schön, Euch wiederzusehen. Kommt, geht hindurch.« Er streckte die Hand aus, und Tristran schüttelte sie herzlich. Dann kam der Pfarrer an die Reihe.
    »Tristran«, meinte letzterer, »Ihr habt sicher viele sonderbare Dinge gesehen auf Eurer Reise.«
    Einen Moment lang schwieg Tristran nachdenklich. »Ich glaube schon«, antwortete er dann.
    »Dann müßt Ihr nächste Woche unbedingt ins Pfarrhaus kommen«, fuhr der Pfarrer fort. »Wir werden Tee trinken, und Ihr müßt uns alles ausführlich erzählen. Wenn Ihr Euch wieder ein wenig eingelebt habt. Ja?« Und Tristran, der immer ziemlichen Respekt vor dem Pfarrer gehabt hatte, konnte nur nicken.
    Louisa seufzte ein bißchen theatralisch und marschierte in zügigem Tempo los, in Richtung Zur Siebenten Elster. Tristran rannte ein Stück über das Kopfsteinpflaster, um sie einzuholen, dann ging er neben ihr her.
    »Es tut mir im Herzen wohl, dich wiederzusehen, Schwester«, sagte er.
    »Wir sind alle ganz krank gewesen vor Sorge um dich«, entgegnete sie ärgerlich, »wegen deiner ganzen Sperenzchen. Du hast mich nicht mal geweckt, um dich von mir zu verabschieden. Vater war zu nichts zu gebrauchen vor lauter Kummer, und an Weihnachten hat er, nachdem wir mit der Gans und dem Plumpudding fertig waren, den Portwein rausgeholt und auf abwesende Freunde getrunken, und Mutter hat herzzerreißend geschluchzt, also habe ich natürlich auch geweint, und dann hat Vater sich die Nase mit seinem besten Taschentuch geputzt, und Großvater und Großmutter Hempstock haben darauf bestanden, sich endlich den Knallbonbons zu widmen und die lustigen Sprüche vorzulesen, aber irgendwie hat das alles nur schlimmer gemacht, und ehrlich gesagt hast du uns Weihnachten gründlich verdorben, Tristran.«
    »Das tut mir wirklich leid«, sagte Tristran. »Was machen

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