Stevens, Chevy
ich ihm laut aus einem Buch über Hausgeburten
vorlesen musste, musste ich jedes Wort aus mir herauszwingen. Wenn früher im
Fernsehen eine Entbindung gezeigt wurde, hatte ich mir immer die Augen
zugehalten, weil ich es nicht ausgehalten hatte, die arme Frau schreien zu
sehen, während dieses Ding aus ihrem Leib gerissen wurde. Ich hatte immer
gedacht, wenn ich je ein Kind bekäme, würde ich einen Haufen Medikamente
schlucken, und mein Mann würde mir ermutigend etwas zuflüstern, während ich
langsam wegdämmerte.
Die gute
Laune des Psychos wegen meiner Schwangerschaft hielt nicht lange an. Dann war
er an einem Tag sehr zufrieden damit, wie meine Nägel aussahen, und am nächsten
befahl er mir, sie alle frisch zu lackieren. Einmal war es in Ordnung, um zwei
Uhr zu pinkeln, beim nächsten Mal zerrte er mich von der Toilette und sagte,
ich müsse bis drei warten. Für eine schwangere Frau, die ohnehin schon eine
kleinere Blase hat, war es unerträglich.
Morgens
zog ich das an, was er für mich ausgesucht hatte, doch nach der Hälfte des
Tages musste ich mich umziehen. Wenn er bei seiner Inspektion auch nur einen
winzigen Fleck auf dem Geschirr fand, musste ich alles noch einmal abwaschen.
Einmal weigerte ich mich, das Badezimmer zu schrubben, und bestand darauf, dass
es sauber sei. Daraufhin fing ich mir eine Rückhand ins Gesicht ein und musste
den ganzen Hüttenboden von einer Wand bis zur anderen schrubben. Ich lernte,
das perfekte Maß an unterwürfiger Scham zu zeigen, zwang mich, zu Boden zu
blicken, und zog den Kopf ein wie ein geprügelter Hund.
Gegen Ende
Januar hatten wir eines Morgens gerade das Frühstück beendet, und ich räumte
auf. Der Psycho sah mir eine Weile zu und sagte dann: »Ich verreise«, als würde
er mir erzählen, dass er den Müll rausbrächte.
»Für wie
lange? Wohin? Du kannst mich hier oben nicht allein lassen ...«
»Ich mache
die Regeln, Annie.« Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Du kannst
mich mitnehmen. Kannst du mich nicht hinten im Van fesseln oder so? Bitte?«
Er
schüttelte den Kopf. »Hier bist du sicherer.«
Der Psycho
holte etwas zu essen aus dem Schrank, größtenteils Vitamindrinks und
Proteinpulver, das man mit Wasser mischen musste, und ließ die Sachen auf der
Arbeitsplatte stehen. Kein Besteck.
Normalerweise
durfte ich nicht in die Nähe des Holzofens,, aber jetzt öffnete er das
Vorhängeschloss und nahm den Schirm fort. Anschließend stapelte er bergeweise
Holz in der Hütte auf und zündete ein Feuer für mich an. Ich hatte keine Axt,
kein Zeitungspapier oder irgendetwas, um ein neues Feuer zu entzünden, also
würde ich höllisch aufpassen müssen, dass es nicht ausging.
Er war ein
paar Monate lang nicht fort gewesen, und so nahm ich an, dass die
Nahrungsmittel langsam knapp wurden und er in die Stadt fahren würde, um die
Vorräte aufzustocken. Ich hatte keine Ahnung, wo er das Essen aufbewahrte, und
alles, was er hereinbrachte, befand sich in mit Reißverschlüssen verschlossenen
Taschen, so dass ich nie herausfand, in welchem Laden er eingekauft hatte. Aber
ich vermutete, dass es draußen irgendwo eine Tiefkühltruhe und einen Keller
gab. Ich hoffte, dass tatsächlich die Vorratsbeschaffung der Grund für seine
Reise war. Würde er Christina wieder besuchen? Was, wenn er eine andere Frau
fand, die ihm besser gefiel, und mich vergaß? Wie lange dauerte es, bis man
verhungert war? Ich fürchtete mich mehr davor, dort oben allein gelassen zu
werden, als vor ihm.
Ein paar
Jahre vor mir war ein Mädchen aus Clayton Falls verschwunden, und ich hatte
immer Angst, ich könnte ihre Leiche finden, wenn ich mit Emma im Wald spazieren
ging. Jetzt fragte ich mich, ob die Welt voll war mit Mädchen wie mir. Ihre
Familien lebten ohne sie weiter. Sie waren nicht mehr auf den Titelseiten. Sie
wurden von ihrem persönlichen Irren in irgendeiner Hütte oder einem
Folterkeller gefangen gehalten und warteten immer noch darauf, gerettet zu
werden.
Als ich
eine weitere Kerbe in die Wand bohrte, versuchte ich, nicht darüber
nachzudenken, wie lange ich schon hier war. Ich versuchte daran zu glauben,
dass mit jedem Tag, der verstrich, der Zeitpunkt meiner Entdeckung näher rückte.
Je länger ich am Leben blieb, desto mehr Zeit gab ich ihnen, mich zu finden.
Ich überlegte, was wohl geschähe, wenn ich gerettet würde, solange ich noch
schwanger war. Ich war fast im fünften Monat, und für eine Abtreibung war es
sicherlich bereits zu spät, aber ich glaube, das hätte
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