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Stevens, Chevy

Stevens, Chevy

Titel: Stevens, Chevy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Still Missing
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beurteilen, wollte
ich seines analysieren. Selbst nach unserem Gespräch über seine Mutter hatte
ich immer noch nicht den Dreh raus, wie ich ihn knacken könnte, und jede
Situation konnte mir Hinweise bieten, die gesammelt und in meinem Gedächtnis
gespeichert werden mussten. Seine Bedürfnisse und Wünsche zu interpretieren wurde
ein Fulltimejob für mich, ich studierte jede Nuance seines Gesichtsausdruckes,
jede Veränderung in seinem Tonfall.
    Die Jahre
des Zusammenlebens mit meiner Mutter, in denen ich lernte, den Grad ihrer
Trunkenheit daran abzuschätzen, wie tief ihre Augenlider herunterhingen,
hatten meine Sinne geschärft. Andererseits hatte ich während dieser Lehrzeit
auch die Erfahrung gemacht, dass ich genauso gut versuchen konnte, die
Reaktionen eines Tigers vorherzusagen - es war nie sicher, ob ich gerade als
Spielkamerad oder als Mahlzeit herhalten sollte. Alles hing von
seiner Stimmung ab. Manchmal machte ich einen Fehler, und er reagierte kaum
darauf, dann wiederum machte ich mich einer weit geringeren Verfehlung
schuldig, und er rastete vollkommen aus.
    Etwa im März,
als ich im sechsten Monat schwanger war, kam er nach einem seiner Jagdausflüge
herein und sagte: »Ich brauche deine Hilfe draußen.«
    Draußen?
Meinte er im Freien? Ich starrte ihn an, hielt nach
einem Anzeichen Ausschau, dass er einen Witz machte oder plante, mich da
draußen umzubringen, aber sein Gesicht zeigte keinerlei Emotion. Er warf mir
eine seiner Jacken und ein Paar Gummistiefel zu.
    »Zieh das
hier an.« Ehe ich auch nur den Reißverschluss der Jacke hochgezogen hatte,
packte er mich am Arm und zog mich aus der Tür.
    Der Geruch
frischer Luft traf mich unvermittelt, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen,
und vor Überraschung wurde meine Brust ganz eng. Als er mich zu einem
Hirschkadaver etwa zwanzig Schritte von der Hütte entfernt führte, versuchte ich,
meine Umgebung zu erfassen, doch es war ein sonniger Tag, und von dem hellen
Schnee begannen meine Augen zu tränen. Ich konnte nur erkennen, dass wir uns
auf einer Lichtung befanden.
    Mein
ganzer Körper brannte von der Kälte. Der Schnee bedeckte nur den unteren Teil
meiner Stiefel, aber ich war es nicht gewohnt, draußen zu sein, und meine Beine
waren nackt. Meine Augen gewöhnten sich an das helle Licht, aber ehe ich noch
mehr erkennen konnte, stieß er mich neben den Kopf des Hirsches auf die Knie.
Aus einem Loch hinter seinem Ohr und einem Schnitt in der Kehle sickerte immer
noch Blut und färbte den Schnee darunter rosa.
    »Hör zu.
Ich möchte, dass du dich am Hinterteil des Hirsches hinkniest und seine Beine
auseinander hältst, sobald wir ihn auf den Rücken gedreht haben, damit ich ihn
ausweiden kann. Verstanden?«
    Ich
verstand, was er von mir verlangte, ich begriff nur nicht, warum er mich um
Hilfe bat - das hatte er noch nie getan. Vielleicht wollte er nur, dass ich
sah, zu was er fähig war, oder genauer gesagt, was er mir antun könnte.
    Aber ich
nickte und vermied es, in die glasigen Augen des Hirsches zu blicken. Ich ging
an ihm vorbei, kauerte mich hinter dem Tier in den Schnee und packte seine
steifen Hinterläufe. Der Psycho kniete sich lächelnd und summend am Kopf in den
Schnee, und wir drehten das Tier auf den Rücken.
    Obwohl ich
wusste, dass er bereits tot war, quälte es mich, den Hirsch so hilflos und all
seiner Würde beraubt mit weitgespreizten Beinen auf dem Rücken liegen zu
sehen. Noch nie zuvor hatte ich ein totes Tier aus solcher Nähe gesehen. Das
Baby schien meine Qual zu spüren und bewegte sich unruhig.
    Ich sah
zu, wie der Psycho mit der Messerspitze in die Leiste des Hirsches schnitt, als
handle es sich um Butter, und mir drehte sich fast der Magen um. Meine Nase
fing den metallischen Geruch von Blut ein, als er in den Innereien des Tieres
herumwühlte und dann den Bauch der Länge nach aufschlitzte. Die Vorstellung,
dass er mich ebenso aufschneiden könnte, mit demselben heiteren Gesichtsausdruck,
überwältigte mich. Ich zuckte zusammen, und er warf mir einen Blick zu.
    Ich
flüsterte: »Entschuldigung«, biss die Zähne gegen die Kälte zusammen und zwang
meine Muskeln stillzuhalten. Er begann von neuem zu summen und zu schneiden.
    Während er
abgelenkt war, schaute ich mich auf der Lichtung um. Dichtgewachsene
Tannenbäume umgaben uns, deren Zweige vom Schnee nach unten gedrückt wurden.
Fußspuren, Schleifspuren und etwas, das aussah wie Blut, verschwanden hinter
der Hütte. Die Luft roch sauber und feucht, und der Schnee

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