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Stevens, Chevy

Stevens, Chevy

Titel: Stevens, Chevy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Still Missing
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dunkel? Welche Farbe hätten ihre Augen? Wäre sie als Erwachsene eher ein
fröhlicher oder ein ernster Mensch geworden? Ich werde es niemals wissen.
     
    Meine
deutlichste Erinnerung an jene Nacht ist das Bild, wie er mit ihr auf dem Arm
am Fußende vom Bett sitzt, und ich denke: Hat er es getan? Dann denke
ich, selbst wenn er es nicht vorsätzlich getan hat, so hat er sie zumindest
getötet, weil er sich geweigert hat, Hilfe für sie zu holen. Es ist leichter,
ihn zu hassen und ihm die Schuld zu geben. Sonst gehe ich diese Nacht immer
wieder in Gedanken durch, versuche mich zu erinnern, wie sie gelegen hat, als
ich sie zuletzt ins Bett zurückgelegt hatte. Eine Weile war ich überzeugt, dass
ich sie auf den Rücken gelegt hatte und dass es mein Fehler war, weil sie
wahrscheinlich eine Lungenentzündung hatte und an ihrem Schleim erstickt ist.
Dann denke ich, nein, ich muss sie auf den Bauch gelegt haben, und ich
überlege, ob sie womöglich erstickt ist, während ich keine zwei Meter von ihr
entfernt schlief. Ich habe gehört, dass eine Frau es fühlt, wenn ihr Kind in
Schwierigkeiten steckt. Aber ich habe nichts gespürt.
Warum habe ich es nicht gemerkt, Doc?
     
    14. Sitzung
     
    Sorry,
dass ich die letzten Sitzungen verpasst habe, aber ich bin Ihnen sehr dankbar,
dass Sie so verständnisvoll waren, als ich abgesagt habe. Außerdem war ich
total überrascht, als Sie letzte Woche angerufen haben, um zu fragen, wie es
mir geht - ich wusste nicht, dass Therapeuten so was machen. Das war echt nett.
    Nach
unserer letzten Sitzung musste ich mich erst einmal eine Weile zurückziehen.
Sieht so aus, als sei ich inzwischen bei einer ausgewachsenen Depression
angelangt - oder besser, als hätte sie mich erwischt. Und sie hat nicht gerade
freundlich angeklopft. Nein, dieses Mistvieh hat sich auf mich geworfen, mich
umgeschmissen und sich sicherheitshalber noch schön an mir festgeklammert. Ich
habe nie zuvor über meine Gefühle nach dem Tod meines Babys geredet - die Cops
wollen nur Fakten, und ich weigere mich, darüber mit Reportern zu reden. Die
meisten Menschen wissen, dass sie mich nicht nach ihr fragen dürfen, ich
schätze, die Leute haben vielleicht doch ein gewisses Einfühlungsvermögen, aber
ab und zu überschreitet ein schwachsinniger Reporter die Grenze.
    Manchmal
frage ich mich, ob die Leute nur deswegen keine Fragen über sie stellen, weil
es ihnen gar nicht in den Sinn kommt, dass ich sie geliebt haben könnte. Als
ich gerade wieder zu Hause war und noch bei Mom wohnte, dachte sie, ich würde
schlafen, aber ich hörte sie und Tante Val in der Küche flüstern. Tante Val
sagte irgendetwas über das Baby, und dann sagte Mom: »Ja, es ist traurig, dass
sie tot ist, aber wahrscheinlich ist es das Beste so.«
    Es ist das
Beste? Ich wollte in die Küche stürmen und ihr sagen, wie sehr sie sich irrte,
aber ich wusste nicht einmal, wo ich hätte anfangen sollen. Ich presste das
Kissen gegen die Augen und weinte mich in den Schlaf.
     
    Ich komme
mir wie eine Heuchlerin vor, wenn ich alle in dem Glauben lasse, er hätte sie
umgebracht und ich sei das unschuldige Opfer - und die ganze Zeit weiß, dass es
meine Schuld ist, dass sie starb. Ja, ich weiß, wir haben bereits am Telefon
darüber gesprochen, und den Artikel über die Schuldgefühle von Überlebenden,
den Sie mir gemailt haben, fand ich auch gut. Das leuchtet mir ein, aber ich
denke immer noch: Wie schön für die Leute, die es betrifft. Es ist
egal, wie viele Bücher oder Artikel ich lese oder wie oft ich schon versucht
habe, mich nicht dafür zu verurteilen, dass ich sie nicht beschützt habe.
    Ich habe
probiert, Ihrem Vorschlag zu folgen und meinem Baby einen Brief zu schreiben,
aber als ich den Notizblock und Stift herausgeholt hatte, saß ich einfach nur
am Küchentisch und starrte auf das leere Blatt Papier. Nach ein paar Minuten
schaute ich aus dem Fenster auf meinen Pflaumenbaum und beobachtete, wie die
Kolibris über den Blüten schwebten, dann starrte ich zurück auf das Blatt. All
diese Gedanken, die ich in der ersten Zeit der Schwangerschaft hatte, sie sei
ein Monster, quälten mich - hatte sie das in meinem Bauch gespürt? Ich
versuchte, mich auf die glücklichen Erinnerungen aus dem Leben mit ihr zu
konzentrieren und nicht darauf, wie sie starb, aber mein Verstand spielte
nicht mit, er beschäftigte sich nur immer wieder mit jener Nacht. Schließlich
stand ich auf und machte mir eine Tasse Tee. Der verdammte Notizblock und der
Stift lagen immer

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