Stille Nacht: Ein Fall für Hubertus Hummel (German Edition)
Steine fielen ihm vom Herzen. Er fühlte sich beschwingt.
Nun konnte Weihnachten kommen.
Draußen dämmerte es. Noch immer fiel der Schnee in dichten Flocken. Im Fenster blinkte das Licht eines Räumfahrzeugs, das sich den Weg durch die Straße bahnte.
Hubertus hatte Lust auf Musik. Zwar hätten sich Weihnachtslieder angeboten, aber irgendwie brauchte er jetzt Cat Stevens.
Er drehte die Anlage auf, widmete sich der Vorbereitung des Schinkens und trällerte: »I am being followed by a moon shadow, moon shadow, moon shadow.«
Das war Elkes Musik gewesen, damals, als man sich immer zum Teetrinken bei ihr getroffen hatte.
»Morning has broken«, sang er lautstark und auswendig mit, und bei »Father and son« dachte er: Wo ist eigentlich Martina?
Fünf Minuten später kam sie und sagte, nachdem sie den Anrufbeantworter abgehört hatte: »Papa, ich muss nachher noch weg.«
»Du hast wohl einen Vogel«, antwortete Hubertus barsch. »Es ist Heiligabend.«
»Papa! Ich bin siebzehn«, antwortete seine Tochter.
»Eben. Du bist noch nicht volljährig!« Hubertus blieb hart.
»Also, zum Kuhreihen gehe ich auf jeden Fall«, sagte Martina.
»Aber mit mir«, konterte ihr Vater.
Die Weihnachtsstimmung im Hause Hummel ließ etwas zu wünschen übrig. Zwar schmeckte der Schinken relativ gut, doch auf das Singen von Weihnachtsliedern wurde ebenso verzichtet wie auf die Weihnachtsgeschichte, die Hubertus in seiner Kindheit Jahr für Jahr vor der Verwandtschaft vorgelesen hatte. Er konnte sie jetzt noch auswendig: »Es begab sich aber zu der Zeit …«
Martina schien das nicht zu vermissen. Überhaupt konzentrierte sie sich weniger auf den Baum als auf die Uhr – als könne sie es gar nicht erwarten, endlich zu gehen.
Zwei Stunden später hatten sie einen Konsens gefunden.
Dies Jahr wollte Hubertus nämlich entgegen seiner eigentlichen Gewohnheit in die Christmette im Villinger Münster gehen, die um zweiundzwanzig Uhr begann. Er sehnte sich mehr denn je nach Geborgenheit und nach alten Ritualen.
Martina, so die Abmachung, sollte mitgehen und durfte anschließend mit ihren Freundinnen – den Anrufer erwähnte Hubertus nicht – zum Kuhreihen und noch zwei Stunden in die Stadt.
Um zehn vor zehn passierten sie das mächtige Münsterportal, das ein zeitgenössischer Künstler aus dem benachbarten Schonach gestaltet hatte. In den Darstellungen der biblischen Motive glaubten manche Betrachter Prominente der Gegenwart zu erkennen. So erinnerte ein Teilnehmer der »Hochzeit von Kanaan« verdächtig an Sepp Maier.
Sie waren nicht zu früh dran. Die Bänke waren gut gefüllt, die Stimmung festlich. Überall leuchteten Kerzen.
Der Organist spielte eine leise, getragene Melodie.
Hubertus durchfuhr ein Schauer. Es würde alles gut werden.
Bestimmt.
Nach dem ersten Teil der Liturgie ging der Dekan mit seinem glänzenden Gewand durch den Kirchenraum, der nur durch den Kerzenschein schummrig beleuchtet war. Er bestieg die Kanzel, wo er einen Moment innehielt und einen konzentriert-bedächtigen Blick aufsetzte. Dann faltete er die Hände vor dem rundlichen Bauch. Auch er schien ein üppiges Festmahl genossen zu haben.
Das Licht des Baldachins über der Kanzel ging an und warf einen matten Glanz auf die hohe Stirn des Gottesmannes. Es schien fast so, als umgebe ihn ein Heiligenschein. Die leichte Unruhe unter den Besuchern und das Knarzen der Bänke wichen einer gespannten Stille. Es war der vielleicht feierlichste Moment des Abends.
Die Predigt begann eher besinnlich, wurde aber bald lebhafter. Gestenreich erklärte der Dekan die Weihnachtsbotschaft und streute auch humorige Passagen ein. Ein paar Nachzügler stellten sich unter die Arkaden der Seitenschiffe – gerade rechtzeitig für die mahnenden Worte des Dekans über zu schwache Besucherzahlen bei den Gottesdiensten während des Jahres.
»Worum es geht, ist das gelebte Christsein. Nicht nur an Weihnachten und an Ostern, sondern auch während des übrigen Jahres.« Sein Blick wurde finster, er zog die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. Seine charismatische Art beeindruckte nicht nur Hubertus.
Der Dekan predigte vom trügerischen Weihnachtsschein der Christbaumkugel und der Weihnachtsgeschenke.
»Ich erinnere an das wahre Weihnachten!«, rief er und wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Altar, wo die Weihnachtskrippe mit den großen handgeschnitzten Figuren stand. »Seht dort: die Krippe mit dem Christuskind, das verfolgt wurde. Genauso wird die Kirche noch heute
Weitere Kostenlose Bücher