Stille Seele (German Edition)
Schmerzlich flutete die Gewissheit durch seinen Körper, dass er es allein niemals schaffen würde, und brachte ihn dazu, resigniert den Kopf zu schütteln.
Die Beamtin zog eine Augenbraue nach oben und zuckte dann mit den Achseln. „Einen Freund also, Mister Atwood. Für wie lange h aben Sie vor zu bleiben?“
Krächzend presste Jakob hervor: „Höchstens für eine Woche.“ E twas fester und mit einem hohlen Lächeln fügte er hinzu: „Dann muss ich wieder arbeiten.“
Sie nickte wenig interessiert und drückte dann den Stempel auf den Pass. Sattes Rot auf blass grauem Untergrund.
Jakob seufzte erleichtert auf und erntete dafür einen prüfenden Blick. „Irgendetwas zu verzollen, Mister Atwood? Haben Sie größere Summen Bargeld ab zehntausend kanadischen Dollar, Zigaretten, Alkohol oder Waren in größeren Wertmengen bei sich?“ Sie beugte sich vor, schaute auf seine Reisetasche und den Matschsack und sah ihm dann fest in die Augen.
Jakob schüttelte stumm den Kopf.
„Gut, Mister Atwood. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Kanada.“ Ihr Blick wanderte bereits zum nächsten Einreisenden, als die Tatsache, dass er es geschafft hatte, noch immer nicht zu Jakob durchgedrungen war.
Wie betäubt schulterte er seine Taschen, durchquerte das Flugh afengebäude und trat wenig später auf den Bürgersteig. Er war in Kanada. Allen Sorgen und Ängsten zum Trotz hatte er es geschafft. Ab jetzt galt es unsichtbar zu werden. Weit weg von dieser Grenzstation zu gelangen und unterzutauchen. Jakob seufzte und ging über den Parkplatz in Richtung Schnellstraße. Das war ab jetzt sein neues Leben – Flucht. Er hatte aufgehört zu existieren. Er würde den Mann, der er einmal gewesen war, hinter sich lassen und neu anfangen.
Es war inzwischen später Nachmittag und Jakob verspürte ein bohrendes Hungergefühl in seiner Magengegend, aber außer diesem Highway, der sich noch hunderte von Meilen in die Ferne zu erstrecken schien, gab es nichts. Kein Städtchen, keine Häuser, und selbst die Anzahl der Autos, die ihn verlässlich in einer kleinen Staubwolke zurückließen, wurde geringer.
Ärgerlich schüttelte Jakob den Kopf. Warum war er so dumm g ewesen, sich nicht noch am Flughafen mit Lebensmitteln und Getränken einzudecken. „Das Leben bestraft die Dummen!“ Und die Armen! Er verbot sich den Gedanken an seine spärlichen Geldreserven. Sein Konto wies zwar eine stattliche Summe auf, aber aus Angst, damit Aufsehen zu erregen, hatte er sich nicht getraut, allzu viel abzuheben und die Summe über die Grenze zu bringen. Jakob war von Jabehill aus mit etwas mehr als tausend Dollar gestartet, die er in den vergangenen Wochen bereits weitestgehend ausgegeben hatte. Er hatte sich vorgenommen, in Kanada mit genügend Abstand zur Grenze sein Geld in mehreren Teilsummen vom Konto abzuheben, aber so weit war er noch lange nicht. Mit einer ergebenen Geste wischte er sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn und setzte seinen Weg fort. Seine braunen, leicht gewellten Haare, die langsam wieder eine annehmbare Länge erreicht hatten, klebten ihm feucht an der Stirn und im Nacken. Die Temperaturen waren zwar eher gering, aber der Fußmarsch und die zwei Taschen strengten seinen von den Verletzungen noch immer angegriffenen Körper an und brachten ihn zum Schwitzen und an den Rand seiner Belastungsgrenze. Jakob beförderte eine Haarsträhne durch ein genervtes Prusten aus dem Gesicht. Seine Schultern schmerzten und er verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Zwei bestechend attraktive Grübchen wurden dadurch zutage gefördert, die jedoch wesentlich effektiver waren, wenn sie durch ein Grinsen entstanden.
Ein Laster donnerte nahe an ihm vorbei und wirbelte Staub und ve rtrocknete Blätter auf. Jakob schaute ihm zornig hinterher und senkte seinen erhobenen Daumen. Der Staub kitzelte ihn in der Nase und für einen kurzen Moment veränderte sich das Bild um ihn herum. Die malerisch schöne Landschaft von Kanadas Süden wich trockener, wüstenähnlicher Steppe. Jakob stöhnte leise auf, blinzelte mehrmals und merkte, wie sich sein Puls langsam beruhigte, als der kanadische Highway wieder vor ihm auftauchte. Seine Beine zitterten und er stolperte benommen in das Gras neben der Straße. Mit einem Stöhnen ließ er sich an einem Baumstamm hinabgleiten und starrte mit dem Kopf an den Stamm gelehnt in das durch das Laub gefilterte Sonnenlicht. Er hasste diese Erinnerungen. Er hasste es, diesen Bildern hilflos
Weitere Kostenlose Bücher