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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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nötig ist, hat sie den
Reißverschluß eines schwarzen Lederstiefels aufgezogen. Sie schüttelt den
Stiefel vom Fuß und öffnet dann den anderen. Sie stellt sie Seite an Seite auf
die Matte. Die Hosenbeine ihrer Jeans fallen bis zum Boden hinunter. Als sie
sich aufrichtet, sehe ich, wie bleich ihr Gesicht ist – nichts Ungewöhnliches
im Winter in New Hampshire.
    Â»Ich brauche etwas für meine Eltern zu Weihnachten«, erklärt sie.
    Â»Ich kann Ihnen zeigen, was ich habe«, sagt mein Vater. Er schaut
zum Fenster hinaus. »Hatten Sie Probleme mit der Straße?« fragt er.
    Â»Es ist ziemlich glatt«, antwortet sie.
    Ich folge meinem Vater und der Frau ins Vorderzimmer. Ihr Parka
fällt an der Hüfte leicht glockig. Ihre Haare sind hinten im Kragen
eingeklemmt. Ihre Bewegungen sind steif, wahrscheinlich wünscht sie jetzt, sie
wäre nicht hergekommen.
    Im Vorderzimmer ist die Beleuchtung jetzt so, daß mein Vater und ich
deutlich sehen, was wir vor einer Stunde gar nicht bemerkt haben: Die Tische
und Stühle aus Kirsche, Walnuß und Ahorn sind mit einer feinen Staubschicht überzogen.
    Â»Lassen Sie mich ein Tuch holen«, sagt mein Vater.
    Als er hinausgeht, hebt die Frau ihre Haare aus dem Kragen. Sie
öffnet den Parka. Ich mustere ihre Kleidung. Sie trägt eine pinkfarbene
Strickjacke über einer weißen Bluse, die sie nicht in den Hosenbund gestopft
hat. Um ihren Hals liegt eine Lederschnur mit einem silbernen Amulett. Ich
fädle bei meinen Halsketten die Perlen auf feines Rohleder und mache einen
silbernen Verschluß daran. Ich habe vor, sie im Sommer mit den Himbeeren
zusammen zu verkaufen.
    Â»Ihre Halskette gefällt mir«, sage ich.
    Â»Oh.« Sie faßt sich mit der Hand an den Hals. »Danke.«
    Â»Ich mache selber Schmuck«, füge ich hinzu.
    Â»Das ist ja toll«, sagt sie in einem Ton, der keinen Zweifel daran
läßt, daß sie anderes als Schmuck im Kopf hat.
    Sie berührt einen Tisch und hinterläßt eine mäandernde Spur im
Staub.
    Â»Sie brauchen also ein Geschenk«, sage ich.
    Â»Ja. Für meine Eltern.«
    Â»Wohnen Sie in Shepherd?« frage ich, obwohl ich ziemlich sicher bin,
daß ich sie noch nie im Ort gesehen habe.
    Â»Ich bin nur zum Einkaufen hier«, antwortet sie.
    Â»Tut mir leid.« Mein Vater kommt mit einem Staubtuch zurück.
    Die Frau tritt zur Seite, während er den Tisch abwischt. »Ihre
Sachen sind schön«, sagt sie.
    Sie geht langsam von Möbelstück zu Möbelstück und berührt im
Vorübergehen jedes einzelne. Sie reibt mit den Fingern über die Rückenlehne
eines Stuhls und streicht über die Seitenwand eines Bücherschranks. Immer
wieder fliegt ihr Blick zu meinem Vater. »Vielleicht würde ihnen ein Bücherschrank
gefallen«, sagt sie. Ich habe den Eindruck, daß sie etwas hinzufügen will, aber
sie schweigt. Sie hat ein rundes Gesicht, das jedoch nicht dick wirkt. Aber mit
ihren Augen stimmt etwas nicht, sie sehen aus, als gehörten sie in ein anderes
Gesicht, ein ungesundes vielleicht. Unter ihren Augen sind bläuliche Halbmonde.
    Wahrscheinlich ist es ihr peinlich, nach den Preisen zu fragen,
darum biete ich von selbst die Liste an. »Wir haben eine Preisliste«, sage ich.
    Mein Vater reagiert mit einem schnellen Kopfschütteln.
    Die Frau wirft mit einer Kopfbewegung die Haare aus dem Gesicht.
»Ja«, sagt sie. »Natürlich.«
    Ohne meinen Vater zu beachten, nehme ich das Blatt vom Kaminsims und
reiche es ihr. Ich beobachte sie, während sie liest.
    Â»Was für Holz ist das?« fragt sie meinen Vater, auf einen kleinen
Schrank deutend.
    Â»Das ist Walnuß«, antwortet mein Vater und fügt nicht hinzu, daß das
Schränkchen getäfelte Türen und versenkte Scharniere hat und daß es mit
Bienenwachs poliert ist. Als Verkäufer ist er ein hoffnungsloser Fall.
    Die Frau geht hinten um den Stuhl herum. Sie legt eine Hand auf die
Lehne und stützt sich darauf. »Der ist wirklich schön«, sagt sie.
    Sie macht einen Schritt zur Seite und tritt dabei auf den Saum ihrer
Jeans. Sie bückt sich und schlägt das Hosenbein um. Ich sehe ihr zu. Sie
schlägt das andere Hosenbein um und richtet sich auf. Doch ich schaue immer
noch zu ihren Füßen hinunter. Im selben Moment, als ich die Socken mit dem
Zopfmuster auf der Seite wahrnehme – perlgraue Angorasocken –,

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