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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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sagt sie zu
meinem Vater: »Ich bin gar nicht hergekommen, um Möbel zu kaufen.«

 
    Â  EINEN MOMENT LANG IST mein
Vater verwirrt. Er hält sie wohl für eine Reporterin, die sich eingeschlichen
hat, um ihn zu interviewen.
    Â»Ich
verstehe nicht«, sagt er.
    Aber ich verstehe, und wie kommt das? Natürlich durch die
Angorasocken mit dem Zopfmuster, die an den Fersen ein bißchen fadenscheinig
sind. Genau so eine lag in dem Zimmer, in dem das Baby geboren wurde. Der
Techniker hat sie eingesteckt, aber wahrscheinlich hat die Frau ein günstiges
Doppelpack gekauft, wie meine Mum das auch tat. Ich erkenne es auch an ihrem
Gesicht, obwohl mir – ich bin zu jung, erst zwölf – ihre aufgedunsenen Züge,
der bläuliche Schimmer unter den Augen und eine teigige feuchte Haut eigentlich
nicht auffallen sollten.
    Die Hand drückt schwer auf die Stuhllehne, und ich habe Angst, daß
die Frau hinfällt.
    Â»Ich bin gekommen, um Ihnen zu danken«, sagt sie zu meinem Vater.
    Â»Wofür?«
    Und jetzt ist sie es, die überrascht ist. »Dafür, daß Sie das Baby
gefunden haben«, erklärt sie, und bei dem Wort Baby ist ihre Stimme ganz dünn und leise, als wagte sie kaum, das Wort
auszusprechen, als meinte sie, es wäre ihr nicht mehr erlaubt, es
auszusprechen.
    Und mein Vater, der immer alles versteht, versteht noch immer nicht.
    Â»Dafür, daß Sie sie gefunden haben«, wiederholt sie.
    Er runzelt die Stirn und schüttelt einmal kurz den Kopf.
    Ich flüstere ihm zu: »Die Mutter«, und da wirft er mit einem Ruck
den Kopf zurück in plötzlichem Begreifen.
    Â»Sie sind die Mutter?« fragt er ungläubig.
    Sie wird rot, und ihre Augen scheinen so blau wie die Fische, die
ich einmal in Claras Zimmer an die Wand gemalt habe.
    Der Schnee vor den Fenstern fällt lautlos. Die Hand der Frau auf der
Stuhllehne ist weiß.
    Â»Sie sind die Mutter des Säuglings, der da draußen im Schnee
ausgesetzt wurde?« fragt mein Vater.
    Â»Ja«, antwortet die Frau und preßt die Lippen fest aufeinander.
    Â»Ich muß Sie bitten, mein Haus zu verlassen«, sagt mein Vater.
    Â»Ich wollte Ihnen nur sagen …«
    Â»Sparen Sie es sich«, unterbricht er sie kurz.
    Sie schweigt, aber sie rührt sich nicht von der Stelle.
    Â»Für Sie ist hier kein Platz«, sagt mein Vater. »Sie haben ein
neugeborenes Kind dem sicheren Erfrierungstod ausgesetzt.«
    Â»Ich muß die Stelle sehen«, sagt sie.
    Â»Welche Stelle?«
    Â»Wo Sie sie gefunden haben.«
    Meinen Vater scheint diese Forderung zu verwirren. »Sie sollten die
Stelle doch kennen.«
    Woher soll sie die Stelle denn kennen, wo ihr Kind seinem Schicksal
überlassen wurde, möchte ich am liebsten meinen Vater fragen. Sie hat doch das
Kind nicht selbst dorthin gebracht. Hat nicht der Kriminalbeamte gesagt, daß
ein Mann das Neugeborene in einen Schlafsack gesteckt und ausgesetzt hat?
    Â»Ich hätte nicht herkommen sollen«, sagt die Frau. »Ich gehe jetzt.«
    Â»Bitte«, sagt mein Vater.
    Die Frau schickt sich an, den Reißverschluß ihrer Jacke
hochzuziehen. Sie schiebt sich seitlich um die Möbelstücke herum.
    Â»Sie sollten aus dieser Gegend hier verschwinden«, fügt mein Vater
hinzu. »Nach Ihnen wird gefahndet.«
    Â»Ich weiß«, antwortet sie.
    Â»Was tun Sie dann hier?« fragt er.
    Â»Zeigen Sie mich an?« fragt sie.
    Â»Ich weiß ja nicht einmal Ihren Namen.«
    Â»Wollen Sie ihn wissen?« fragt sie, bereit, sich meinem Vater
auszuliefern, diesem Fremden, diesem Mann, dem sie alles verdankt.
    Â»Ich will nicht einmal wissen, daß Sie überhaupt existieren«,
entgegnet mein Vater.
    Die Frau schließt die Augen, und wieder fürchte ich, daß sie
hinfällt. Ich gehe einen Schritt auf sie zu und bleibe gleich wieder stehen –
zu jung natürlich, um zu helfen.
    Â»Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, was Sie getan haben?«
fragt er.
    Â»Ich war …«, beginnt sie.
    Ich bin sicher, sie wollte sagen, ich war es
nicht , und mein Vater glaubt das offenbar auch. »Sie waren dabei, oder
nicht?« fragt er.
    Â»Ja«, antwortet sie.
    Â»Sagen Sie kein Wort mehr«, sagt mein Vater und wendet sich mir zu.
»Nicky, geh hinaus.«
    Â»Dad!« sage ich.
    Zuerst geben die Knie der Frau nach, es sieht aus, als wollte sie in
die Hocke gehen. Sie wirft die Arme nach vorn,

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