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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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trotzdem stößt sie mit dem Kinn
gegen die Tischecke. Ich habe noch nie einen richtigen Menschen ohnmächtig
werden sehen. Es ist ganz anders als im Kino oder in Büchern. Es ist häßlich,
und es macht angst.
    Mein Vater kniet neben der Frau nieder und hebt ihren Kopf an. Sie
kommt beinahe augenblicklich wieder zu sich, scheint aber nicht zu wissen, wo
sie ist.
    Â»Nicky, bring mir ein Glas Wasser«, sagt mein Vater.
    Widerstrebend gehe ich hinaus. Meine Hände zittern, als ich den
Wasserhahn aufdrehe. Ich fülle das Glas bis fast zum Rand und verschütte ein
bißchen was auf dem eiligen Rückweg ins Zimmer. Als ich dort ankomme, hat die
Frau sich aufgesetzt.
    Â»Was ist passiert?« fragt sie.
    Â»Sie sind ohnmächtig geworden«, antwortet mein Vater. »Hier, trinken
Sie.« Er reicht ihr das Glas Wasser. »Schaffen Sie es zum Auto? Wir müssen Sie
ins Krankenhaus bringen.«
    Ihre Hand ist blitzschnell, so schnell, daß ich die Bewegung kaum
wahrnehme. Sie schnellt vor, und die Finger schließen sich um das Handgelenk
meines Vaters. »Das geht nicht«, sagt sie, ihn ansehend. »Ich will nicht.« Ihr
Gesicht ist bleich, beinahe grün. »Ich gehe.« Sie läßt den Arm meines Vaters
los. »Ich hätte gar nicht kommen sollen. Es tut mir leid.« Sie versucht
aufzustehen. Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn.
    Â»Setzen Sie sich«, sagt mein Vater, und nach einer Sekunde des
Zögerns tut sie es. »Wann haben Sie das letztemal gegessen?«
    Â»Wenn Sie mich ins Krankenhaus bringen«, sagt sie, »wird man mich
verhaften.«
    Die schlichte Wahrheit. Das würde man tun.
    Die Frau beugt sich kopfüber vor und erbricht auf ihre Jeans. Ich
kann kaum glauben, was ich sehe. Der Ohnmachtsanfall, das Erbrechen – das alles
gehört doch nicht in unser Haus!
    Â»Nicky«, sagt mein Vater, »hol mir nasse Papiertücher und einen
Topf.«
    In der Küche reiße ich einen Packen Tücher von der Küchenrolle und
befeuchte ihn. Aus einem Schrank nehme ich einen Kochtopf. Im Zimmer zurück,
drücke ich der Frau die Papiertücher in die Hand, damit sie sich säubern kann.
Zitternd stelle ich den Topf zu Boden.
    Der Frau wischt sich die Jeans ab. Sie hockt an ein Tischbein
gelehnt. »Ich brauche eine Toilette«, sagt sie. Mit Anstrengung schafft sie es
aufzustehen. Sie schwankt heftig. Mein Vater nimmt sie beim Arm und hält sie.
    Â»Ganz ruhig«, sagt er.
    Zusammen gehen mein Vater und die Frau zum hinteren Flur, wo das
Badezimmer ist. Ich beobachte, wie sie sich von ihm löst, ins Badezimmer tritt
und die Tür hinter sich schließt.
    Erregt fährt sich mein Vater mit den Händen durch die Haare. »Das
ist eine Katastrophe«, sagt er.
    Â»Du kannst sie nicht ins Krankenhaus bringen.«
    Â»Aber sie braucht einen Arzt.«
    Â»Vielleicht hat sie nur nichts gegessen. Vielleicht ist sie einfach
nur müde.«
    Â»Hier kann sie nicht bleiben.«
    Â»Aber Dad …«
    Mein Vater und ich stehen zwischen der Küche und dem Badezimmer,
nahe genug, um zu reagieren, wenn die Frau rufen sollte, aber nicht so nahe,
daß wir hören, was hinter der geschlossenen Tür vorgeht. Mein Vater schiebt die
Hände in die Hosentaschen und klimpert mit dem Kleingeld darin. Wir schweigen,
beide damit beschäftigt, uns klarzumachen, wer die Frau ist, die zu uns ins
Haus gekommen, die, wie flüchtig auch immer, in unser Leben eingedrungen ist.
Mein Vater geht zur Hintertür, öffnet sie, schaut in den Schnee hinaus und
schließt die Tür wieder. Er verschränkt die Arme vor der Brust.
    Â»Du lieber Gott«, sagt er.
    Ich gehe die Treppe hinauf in mein Zimmer. Auf einem Bord in meinem
Kleiderschrank, hinter einem Matchsack, finde ich einen Schlafanzug, den meine
Großmutter mir mal gemacht hat. Ich finde ihn scheußlich und wollte ihn längst
wegschmeißen, aber mein Vater hat darauf bestanden, daß ich ihn behalte und
anziehe, wenn meine Großmutter zu Besuch kommt. Er ist mit kindischen rosaroten
und himmelblauen Teddybären gemustert, und die Hose hat in der viel zu weiten
Taille einen Gummizug.
    Als ich wieder hinunterkomme, ist mein Vater in der Küche. Er hat
sich eine Zigarette angezündet. Der Rauch steigt auf und schwenkt im Luftzug
vom Fenster her rasch nach links. Wir stehen herum, mein Vater mit seiner
Zigarette und ich mit meinem Flanellbündel, als

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