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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Er sagt, er mußte weg, um den Erinnerungen
zu entkommen. Er sagt, niemals könnte er wieder in unserem Haus leben.«
    Â»War es schlimm für dich?«
    Â»Am Anfang war ich wütend. Aber dann, ich weiß auch nicht,
wahrscheinlich habe ich begriffen, daß er es einfach tun mußte. Ich habe mich
daran gewöhnt.«
    Ich betaste den Anfang des Zopfs, an dem sie flicht. Tadellos
ausgeführt, nicht ein Härchen aus der Reihe, schmiegt er sich in vollendeter
Rundung um meinen Kopf. »Wow!« sage ich.
    Â»Ich habe gar keinen Fernseher gesehen«, bemerkt Charlotte, mit
einer Haarsträhne auf meiner linken Kopfseite beschäftigt.
    Â»Wir haben keinen mehr«, erkläre ich. »Ich habe ein Radio, aber mein
Vater wollte keine Glotze. Er und meine Mutter fanden sowieso, Kinder sollten
nicht dauernd fernsehen, aber nach dem Unfall hatte er, glaube ich, Angst, daß
er im Fernsehen nur noch Unfälle und Katastrophen sehen würde.«
    Â»Wann sind deine Mutter und deine Schwester gestorben?«
    Â»Vor zwei Jahren.«
    Â»Seitdem hat dir niemand mal die Haare gemacht, stimmt’s?«
    Â»Stimmt.«
    Charlotte läßt meine Haare los. In dem kleinen runden Spiegel über
dem Schreibtisch kann ich sie sehen. Sie schließt die Augen. Von Zeit zu Zeit
wird in dieser Nacht und am nächsten Tag die plötzliche Erkenntnis dessen, was
sie getan hat, was ihr in diesem Motelzimmer widerfahren ist, über ihr
zusammenschlagen.
    Ich weiß genau, wie das ist. In der ersten Zeit nach unserem Umzug
nach New Hampshire überschwemmten mich auf dem Fußballplatz oder im Musiksaal immer
wieder plötzliche Wellen des Schmerzes. Selbst wenn ich nicht bewußt an meine
Mutter dachte, hat es mich oft wie aus dem Hinterhalt überfallen. Meine
Gedanken schweiften zu einer Vorstellung von ihr, nur um mir zu zeigen, daß da,
wo ich sie vor mir sehen wollte, in der Küche mit einer Tasse Kaffee oder in
ihrem VW oder strickend vor dem Fernsehapparat, wo wir uns gemeinsam ein
Disney-Video anschauten, leerer Raum war.
    Â»Alles okay?« frage ich.
    Â»Mir geht’s gut«, antwortet sie. Farbe kehrt langsam in ihre Wangen
zurück. »Das Nickerchen hat gutgetan. Und das Essen.«
    Â»Sie haben kaum was gegessen in den letzten Tagen?«
    Â»Nicht viel«, sagt sie.
    Â»Wir können nachher runtergehen und uns Kakao machen«, sage ich.
»Ich lebe praktisch von Kakao.«
    Ich höre Schritte im oberen Flur, und einen Augenblick später klopft
es an meiner Tür.
    Charlotte legt die Bürste auf den Schreibtisch und tritt von mir
weg.
    Mein Vater kommt herein. Er schaut zuerst mich an, dann Charlotte,
dann wieder mich. »Was geht hier vor?« fragt er.
    Dabei braucht er nur meine Haare anzusehen, um zu wissen, was
vorgeht.
    Charlotte geht um mich herum, wirft keinen Blick zurück, als sie an
meinem Vater vorbeischlüpft und das Zimmer verläßt.
    Â»Muß ich sie in ihrem Zimmer einsperren?« fragt er.
    Â»Nein«, antworte ich.
    Er schüttelt den Kopf. »Der Sturm ist schlimmer geworden.«
    Gut, denke ich. Da kann mein Vater Charlotte nicht zum Gehen
zwingen, und Detective Warren kann nicht zu uns kommen. Ich wollte, es würde
Wochen schneien.
    Â»Hast du deine Taschenlampe?« fragt mein Vater.
    Â»Ja.«
    Â»Batterien?«
    Â»Ja.«
    Â»So wie das da draußen heult, werden wir sie brauchen.«
    Â»Was ist mit ihr?« frage ich mit einer Kopfbewegung zum Gästezimmer.
    Â»Ich habe ihr eine Taschenlampe auf den Nachttisch gelegt.«
    Â»Wie spät ist es?« frage ich.
    Â»Ungefähr halb zehn.«
    Â»Du hast gar nichts über meine Haare gesagt.« Die Bemerkung ist als
Herausforderung gemeint.
    Â»Wie heißt diese Frisur?«
    Â»Das ist ein französischer Zopf.«
    Â»Hübsch.« Mein Vater sieht erschöpft aus, älter als zweiundvierzig.
    Er seufzt. »Geh schlafen«, sagt er.
    Ich ziehe mich aus und klettere in mein Bett. Ich schalte das
Nachttischlicht aus. Mit den Fingern betaste ich meinen stramm geflochtenen
neuen Zopf und lausche dem Seufzen des Windes. Von Zeit zu Zeit bilde ich mir
ein, Autos in der Einfahrt zu hören. Ich gebe acht, ob ich Motorengeräusch
ausmachen kann. Ich denke an Detective Warren. Hat er mir die Geschichte mit
der Axt geglaubt? Ich weiß es nicht. Vielleicht war er froh, daß mein Vater
nicht da war: leichter für ihn, sich im Haus umzusehen,

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