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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Zimmer wäre es eiskalt. Die Kinder in der Schule wären
alle zurückgeblieben, und die Lehrerin sei einfach blöd. Im oberen Badezimmer
gebe es keine Steckdose für den Fön, und auf der Dusche sei überhaupt kein
Druck.
    Eines Abends, nachdem ich darauf bestanden hatte, daß mein Vater bei
mir im Wohnzimmer blieb, während ich meine Schularbeiten machte, bettelte ich
ihn an, mir zu helfen, und unterbrach ihn dann jedesmal, wenn er mir etwas
erklären wollte. Ich traktierte mein Matheheft mit dem Metallrand am Ende
meines Bleistifts (die Radierer mit den Zähnen herauszubrechen war eine
Gewohnheit von mir, die ich nicht ablegen konnte), zerfetzte dabei das Papier
und zerkratzte die Holzplatte des Couchtischs darunter. Mein Vater stand auf
und ging in die Scheune hinaus.
    Ich blieb mit dem Bleistift in der Hand noch eine Weile sitzen und
versuchte, die Kratzer im Holz mit Spucke zu verwischen. Dann folgte ich meinem
Vater und bereitete unterwegs eine Verteidigung vor: Es sei ungerecht; ich
hätte überhaupt keine Freundinnen; die anderen Mädchen seien lauter Tussen; das
Haus sei gruselig. Als ich die Tür zur Scheune aufmachte, konnte ich zuerst
nichts erkennen. Mein Vater hatte kein Licht gemacht. Aber dann sah ich ihn im
Mondlicht, das zum Fenster hereinfiel. Er stand auf der anderen Seite des
großen, hohen Raums an die Wand gelehnt. Vielleicht rauchte er nur eine Zigarette,
aber für mich sah es aus, als wäre er zutiefst erschöpft und niedergeschlagen,
ein Mann, der weiß, daß er alles verloren hat.
    So leise wie möglich schloß ich die Tür wieder und schlich ins Haus
zurück. Ich setzte mich aufs Sofa und machte meine Schularbeiten ohne
Schwierigkeiten fertig, wie ich das von Anfang an hätte tun können. Ich kramte
in den Küchenschränken und fand eine Dose Kakao. In einem Topf setzte ich
Wasser auf und machte zwei große Henkelbecher heiße Schokolade. Mit den Bechern
in den Händen ging ich wieder zur Scheune und rief dabei mit lauter Stimme:
»Dad?« Ehe ich die Tür erreichte, wurde das Licht angeknipst. Ich ging hinein,
als wäre nie etwas gewesen. »Möchtest du einen Kakao?« fragte ich.
    Zusammen setzten wir uns auf eine Bank und bliesen in unsere Becher.
»Das ist jetzt genau das richtige«, sagte er, tapfer bemüht, einen heiteren Ton
anzuschlagen. Keiner von uns erwähnte den Streit.
    Â»Es ist kalt hier drinnen«, sagte ich.
    Â»Ich werde versuchen, den Ofen da zu richten«, erwiderte er.
    Â»Meinst du, wir könnten ein paar Poster für mein Zimmer besorgen?«
    Â»In Lebanon gibt es bestimmt einen Laden, wo man so was bekommt«,
meinte er. »Wir können uns ja dieses Wochenende mal umschauen.«
    Â»Und dann brauche ich noch einen Schreibtisch«, sagte ich.
    Mein Vater nickte.
    Â»Was willst du eigentlich arbeiten?« fragte ich.
    Â»Ich weiß noch nicht«, antwortete er. »Vielleicht irgendwas
Handwerkliches.«
    Ich erwache in tiefer Stille. Der Wind hat sich gelegt; nichts
prasselt mehr gegen die Scheiben, nichts braust mehr um die Fenster. Die ganze
Welt ist still, als ruhte sie nach der langen Schlacht in der Nacht zuvor. Auf
nackten Füßen hüpfe ich über den kalten Boden zum Fenster. Der Himmel draußen
ist grau, und es schneit immer noch.
    Ich
schlüpfe in meine Hausschuhe und meinen Bademantel und mache meine Zimmertür
auf. Aus der Küche höre ich das Zufallen der Kühlschranktür. Dad ist
anscheinend schon auf.
    Aber nicht mein Vater ist an diesem Morgen in der Küche, sondern
Charlotte. Sie steht mit einem Rührlöffel in der Hand am Herd. Sie hat den
Flanellpyjama mit den rosaroten und himmelblauen Bären an, dazu ihre grauen
Angorasocken mit dem Zopfmuster. Beim Anblick der Strümpfe sehe ich einen
Moment lang nur das Motelzimmer mit den blutbefleckten Laken. Ich blicke zu
Charlottes Gesicht hinauf.
    Â»Ich mache arme Ritter«, sagt sie. Ihre Haare sind naß und ringeln
sich im Nacken. Ihr Gesicht ist frisch gewaschen und glänzt vor Sauberkeit im
Schein der Deckenlampe. »Trinkst du Kaffee?«
    Â»Nein«, antworte ich. Sie ist auf verwirrende Weise verändert. Sie
wirkt ausgeruht, aber das allein ist es nicht. Irgendwie ist sie gesünder,
robuster.
    Drei Teller stehen auf der Arbeitsplatte neben dem Herd bereit.
Daneben liegt das Besteck. Charlotte hebt zwei Scheiben Toast auf einen der
Teller. »Ich

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