Stiller Tod: Thriller (German Edition)
passiert, wenn ihnen das alles wieder genommen wird? Denn das wird es. So läuft das, todsicher. Leute geben dir Dinge, abersie nehmen sie dir auch genauso schnell wieder, und dann wollen sie mehr von dir, als sie dir je gegeben haben.
Bei Tagesanbruch packt Dawn Brittanys Sachen zusammen und schleicht ins Gästezimmer, um sich anzuziehen. Einen Moment lang hat sie ein schlechtes Gewissen, obwohl sie weiß, dass sie jetzt nicht schwach werden darf. Dass sie sich und ihre Tochter schützen muss.
Sie geht zurück ins Kinderzimmer, zieht Brittany an und hebt sie vom Bett. Ihre schlafende Tochter ist schlaff und schwer, und Dawn kommt sich vor wie ein Lastesel, während sie die Tasche und das Kind möglichst geräuschlos die Treppe hinunterträgt.
Neben der Haustür sieht Dawn eins von diesen Tastenfeldern und fürchtet auf einmal, dass Exley die Alarmanlage aktiviert hat und das Ding losjault und ihn aufweckt, sobald sie die Tür aufmacht. Aber die Tür lässt sich geräuschlos öffnen, und Dawn zieht sie hinter sich zu und atmet die frische, kühle Morgenluft ein.
Als sie an das hohe Gittertor kommt, ist sie wieder kurz verunsichert. Abgeschlossen. Keine Klinke. Dann sieht sie daneben einen kleinen Knopf und drückt darauf, und das Tor gleitet auf, und sie sind frei.
Sie marschiert Richtung Hauptstraße, die weit weg, hoch über dem schlafenden Vorort verläuft. Brittany wird wach und muss pinkeln. Dawn lässt sie ihr Geschäft am Straßenrand verrichten, im Rinnstein von irgendwelchen Reichen. Später will die Kleine nicht weitergehen, also muss Dawn sie tragen, und sie fragt sich, wie zum Teufel sie die ganze Strecke den Berg rauf schaffen soll.
Sie hört einen Motor heulen, und ein kleiner Pick-up kämpft sich zu ihr herauf. Auf der Ladefläche liegen zwei Surfboards mit silbernen Schutzhüllen, die die Sonne reflektieren wie Spiegel. Dawn winkt, und der Pick-up hält an.
Zwei junge Weiße in Neoprenanzügen, mit langen blonden Haaren und Flaum am Kinn, sehen sie an.
»Hey«, sagt der Fahrer.
»Könnt ihr uns ein Stück mitnehmen?«, fragt Dawn.
»Wo wollt ihr hin?«
»Zu den Sammeltaxis.«
»Wir fahren runter nach Hout Bay. Da können wir euch absetzen, okay?«
»Super«, sagt Dawn, und der Beifahrer steigt aus und lässt sie zwischen sich und dem Fahrer sitzen. Sie riechen nach Meerwasser und Marihuana. Brittany schläft wieder ein, und Dawn hält sie eng an sich gedrückt.
Der Pick-up fährt los, klassischer Reggae plärrt aus den Lautsprechern. Bob Marley sagt ihr: »No Woman, no Cry.« Die Typen schweigen, was Dawn nur recht ist. Sie bedankt sich, als sie sie an dem Kreisverkehr in der Nähe von Mandela Park absetzen, wo schwarze Arbeiter schon scharenweise in die Minibusse drängen, um in die Stadt zu fahren.
Dawn steigt mit Brittany in eines der Sammeltaxis, lässt sich von dem Xhosa-Geplapper beruhigen, sieht zu, wie die Berge und Bäume der Reichen den flachen, hässlichen Vororten der Armen Platz machen. Kehrt dahin zurück, wo sie hingehört.
KAPITEL 46
Vernon wird vom Kreischen irgendeiner Maschine geweckt. Er setzt sich auf Docs muffigem Sofa auf, Sonne knallt durch die kaputten Fenster, ein Mischmasch aus üblen Gerüchen begrüßt ihn zurück in der Welt. Er sieht auf die Uhr. Nach zehn. Er muss nicht arbeiten, aber er muss trotzdem auf Touren kommen.
Er fühlt sich ausgeruht. Sein Verstand ist jetzt ruhiger, fokussiert. Seine Wut schön fest unter Verschluss, griffbereit, wenn er sie braucht. Er weiß, er muss bloß einen kühlen Kopf bewahren, dann wird ihm schon einfallen, was er wegen Exley und Dawn unternehmen kann, wie immer.
Er muss pinkeln und geht tiefer ins Haus hinein als je zuvor, folgt dem Geräusch. Der kurze Flur, der zur Küche führt, ist vollgestopft mit alten Zeitungen und Illustrierten, einem Sammelsurium kaputter Möbel und Junkfoodverpackungen. Das Linoleum ist rissig und wellig, und irgendwas Klebriges saugt an Vernons Schuhen, macht bei jedem Schritt Kussgeräusche.
Er bleibt in der Küchentür stehen und sieht Doc, der eine alte Taucherbrille trägt, am Küchentisch arbeiten, mit einer kleinen Motorsäge in irgendwas reinschneiden. Der Raum ist das reinste Chaos. In der Spüle und auf dem Tisch stapelt sich schmutziges Geschirr, beschmiert mit etwas Dunklem und Fettigem, und Hunderte von Fliegen schwirren umher, fressen. Eine wuchtige Tiefkühltruhe klappert und brummt, und darüber hängen noch mehr Fliegen in einer dichten Wolke.
Doc blickt zu ihm hoch
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