Stimme aus der Unterwelt
überlegte.
Ins Hotel zurückgehen?
Das konnte er nicht riskieren.
Vielleicht warteten dort schon die Bullen. Und überhaupt — wie sollte er
Froschauge erklären, daß er immer noch hier war?
Rüdiger begann am ganzen Körper zu
zittern. Endete hier seine Laufbahn als Hoteldieb? Aber — davon wußte ja
niemand. Im Grunde konnte man ihm nur einen einzigen Diebstahl vorwerfen: den
im Alpen-Express.
Schlimm genug! Statt einem
Schwerverletzten zu helfen, hatte er ihn gefleddert. Abscheulich! Aber wenn er
nun behauptete, er sei betrunken gewesen und nicht Herr seiner Sinne, weil
bekanntlich unter Alkoholeinfluß der Verstand aushakt.
Vor allem, dachte Rüdiger, muß ich
irgendwie beweisen, daß ich nicht der Gewalttäter bin. Ich habe keinen brutalen
Raubüberfall begangen, sondern nur ein bißchen geklaut. Gütiger Himmel, wie
stelle ich das richtig? Zur Polizei gehen? Nein! Die lacht sich ins Fäustchen
und glaubt mir kein Wort. Es gibt nur einen Weg...
Er sah sie vor sich, glasklar, die
einzige Möglichkeit.
Und er begann sofort, sie in die Tat
umzusetzen.
Dort hinten war eine Telefonzelle.
Er hechelte hin. Mit zittrigen Fingern
wälzte er das Fernsprech-Verzeichnis.
Aha, da war sie: Susi Welmhoff, Telefon
7108, Mittelriß-Einöd Nr. 3.
Das war offenbar die Adresse. Wieso
Mittelriß-Einöd und nicht Bad Fäßliftl?
Rüdiger wußte: Am Bahnhof gab es eine
sogenannte Informations-Ecke mit einem Ortsplan unter Glas, einer Gebietskarte
— ebenfalls unter Glas Wanderrouten und...
Schnell hin, bevor Frühreisende mit
ihren Zeitungen anrückten!
Er rannte. Noch immer leere Straßen. An
einem Bungalow wurden die Jalousien hochgezogen. Ein struppiger Hund trottete
über die Fahrbahn und verschwand in einer Gasse. Die Kirchturmuhr schlug.
5.30Uhr war’s! Rüdiger kam an einem Delikatess-Geschäft vorbei und blickte
sehnsuchtsvoll auf die Leckerbissen. Unglaublich, wie das Übernachten im Freien
Hunger machte.
Als der Hoteldieb die Informations-Ecke
erreichte, war niemand in der Nähe.
Er studierte die Gebietskarte, fand das
Mittelriß-Tal, entdeckte vier Weiler oder Siedlungen, die Mittelriß-Einöd
hießen, aber enorm verstreut lagen, mit großem Abstand zueinander.
Nr. 3 — aha, dort!
Er prägte sich den Weg ein.
In 90 Minuten, schätzte Rüdiger, war
das zu schaffen.
15. Früher Besuch
Für Tim begann der neue Tag um 6.33
Uhr, also fast zur gewohnten Zeit.
Wie kurz auch immer eine Nacht für den
TKKG-Häuptling ist — sein innerer Rhythmus weckt ihn früh.
Das sogenannte Zirbelzimmer — die Wände
waren mit wunderschönem Zirbelholz verkleidet und dufteten wie frisch aus der
Tischlerei — hatte Fenster nach Norden und Osten.
Die Vorhänge waren offen. Sonnenlicht
fiel Tim aufs Gesicht, die nächtlichen Wolken waren verschwunden. Goldhell
wurde es hinter den Augenlidern und warm um die Nase.
Er setzte sich auf, schwang die Beine
aus dem Bett und verbrachte eine Minute mit Räkeln und Strecken.
Karl schlief in dem zweiten Bett — drüben
in der Ecke — und schien heftig zu träumen. Er schnitt Grimassen.
Leise erhob sich Tim. Er wußte, daß er
nicht mehr einschlafen konnte. Außerdem wollte er den Tag nicht verpennen. Was
Karl und auch Klößchen, der nebenan im Gästezimmer logierte, mit dem frühen
Morgen anfingen, würde er nachher noch erfahren.
Er zog Turnhose, T-Shirt und
Joggingschuhe an, verließ das Zimmer und horchte in die Stille des großen
Landhauses. Holmanns Schlafzimmer lag auf der Westseite, am Ende des Flurs, der
das Obergeschoß teilte.
Tim huschte die Treppe hinunter.
In der Küche fand er Teebeutel,
indischen Schwarztee. Es dauerte nur Minuten, bis der TKKG-Häuptling den
belebenden Trank schlürfte.
Für einen Morgenlauf war jetzt die
richtige Zeit.
Und dabei, dachte Tim, kann ich das
Praktische mit dem Nützlichen verbinden, Training mit Umsicht. Denn dieser
Morddroher scheint echt eine Schraube locker zu haben. Schade! Hätte gern den
zweiten Anruf gehört. Vielleicht wäre ich mir dann sicher: Ist es der
Mittelscheitel-Typ aus dem Gasthaus Traube — oder nur eine Ähnlichkeit der
Stimmen? So oder so — man muß handeln. Der Traube-Wirt war ganz o. k. Werde ihn
fragen, ob er den Typ kennt — Name und so. Wenn ja, kann ich den nächsten
Schritt machen. Aber erstmal wird das Tal kontrolliert.
Er leerte die Tasse, stellte sie ins
Spülbecken und trat in die Diele.
Die Eingangstür hatte in der Mitte ein
kleines, durch ein Ziergitter geschütztes
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