Stimmen aus dem Nichts
heißen? Leidet die Patientin unter Verfolgungswahn?«
Die Ärztin räusperte sich. »Das ist nicht so einfach zu erklären. – Wie Sie sehen, befindet sich in diesem Raum nichts, was für eine Damentoilette ungewöhnlich wäre. Und schon gar nichts, was auf eine fremde Stimme schließen ließe. Wir können also beruhigt sein. Und Dr. Franklin ist eine anerkannte Expertin, geradezu eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Sie wird der Patientin sicher helfen können. Bisher hat sie schon große Fortschritte erzielt, das müssen Sie mir glauben.«
»Von fremden Stimmen kann hier aber nicht die Rede sein.« Die junge Mutter schien sich mit Dr. Millers Erklärung nicht so schnell zufrieden zu geben. »Erwähnte die Dame nicht, dass es die Stimme ihrer Schwester war?«
»Junge Frau, wer hier, aus welchen Gründen auch immer, bei wem in Behandlung ist, darf ich leider nicht hinausposaunen. Auch Ihnen gegenüber nicht. Es tut mir Leid, aber das waren Ihre Worte. Wollte ich genauer auf Mrs Holligans Probleme eingehen, dann würde ich das Vertrauen unserer Patienten verletzten. Ich hoffe auf Ihr Verständnis. Wie Sie außerdem festgestellt haben, finden sich keinerlei Anzeichen, dass hier ein Unbefugter, der die Patienten erschreckt, versteckt sein könnte. Das wäre ja lachhaft. Hier ist nichts! Ich kann Ihnen nur empfehlen, dieser Dame nicht allzu viel Glauben zu schenken. Sie ist psychisch krank. Mehr werde ich dazu nicht sagen.«
Justus warf Mrs Holligan einen raschen Blick zu und hoffte, dass die alte Dame, die sich inzwischen zu ihm gesellt hatte, diese abfällige Bemerkung nicht gehört hatte.
»Und?« Skeptisch und erwartungsvoll zugleich blickte Mrs Holligan in das Gesicht der jungen Mutter, als diese zurück in die Arztpraxis trat. Zu mehr als einem Schulterzucken war die Frau jedoch nicht fähig.
Zu gern hätte Justus die Räumlichkeiten der Damentoilette selbst inspiziert, doch in diesem Moment trat Dr. Miller aus der Tür und zog sie mit einem demonstrativen Ruck hinter sich ins Schloss. Dann wandte sie sich an die Sprechstundenhilfe, die hinter ihrem Tresen noch immer mit der Patientenschlange beschäftigt war. »Mrs Petersen, geben Sie Mrs Holligan für heute Nachmittag einen Termin bei Dr. Franklin. Sektor sieben blau.« Mit diesen Worten verschwand die Ärztin hinter einer der vielen Türen der Gemeinschaftspraxis.
Mrs Holligan nahm schweigend den Zettel entgegen, den ihr die Sprechstundenhilfe über den Tresen reichte. Mit langsamen Bewegungen steckte sie ihn in ihre Handtasche und schlurfte durch den langen Flur dem Ausgang entgegen. Auch hier standen an der Seite einige Stühle. Mit einem Stoßseufzer ließ sie sich nieder und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
Justus konnte seinen Blick nicht von der alten Dame lösen. Sie war ungefähr siebzig Jahre alt. Ihre grauen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden und die Hände, die sich noch immer schützend um ihr Gesicht legten, waren runzlig. Mrs Holligan schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein.
Justus ging langsam auf sie zu und setzte sich neben sie. »Wie geht es Ihnen, Madam?«, fragte er und fand seine Frage angesichts der vorangegangenen Situation im selben Moment völlig unangebracht. Deshalb fügte er schnell hinzu: »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Mrs Holligan ließ ihre Hände in den Schoß fallen und sah Justus resigniert an. »Mir kann scheinbar niemand helfen. Vermutlich werde ich einfach nur alt. Das muss ich akzeptieren.« Justus wollte etwas erwidern, doch die Dame winkte mit einer müden Handbewegung ab. »Ich war immer Realistin«, sagte sie. »Und dem Arzt, in dessen Obhut man sich begibt, sollte man auch vertrauen. Das Alter ist eine vertrackte Sache, junger Mann. Wenn man so jung ist wie du, macht man sich noch wenig Gedanken darüber. Wozu auch? Mit der Zeit erst schleichen sie sich ein, die kleinen Wehwehchen, die einem den Alltag erschweren. Zuerst ergrauen die Haare, das Gehen fällt einem schwer, die Sehkraft wird schwächer, und nach und nach fallen die Zähne aus.«
Justus überkam ein Frösteln. Er war unangenehm berührt über diese schonungslose Offenheit der alten Dame.
»Ich will mich aber nicht beschweren«, fügte sie hinzu. »Denn noch lebe ich.«
Aus seiner Neugier hatte Justus nie einen Hehl gemacht. Im Gegenteil. Für ihn war es die wirksamste Methode Menschen besser zu verstehen. Doch nun entschied er, dass angesichts der vorherrschenden Situation Zurückhaltung angebracht war. Er konnte Mrs Holligan
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