Stimmen der Angst
einzugehen.
Mit der Daumenkuppe schnippte sie den Deckel von einem Fläschchen starker, aber rezeptfreier Schlaftabletten, die sie eigentlich selten benutzte. Ein Hagelschauer kleiner blauer Kapseln rieselte in ihre geöffnete Linke.
Im ersten Moment glaubte Dusty, sie wolle sich mit einer Überdosis vergiften, was aber lächerlich war, weil selbst der Inhalt einer ganzen Flasche vermutlich nicht gereicht hätte, sie umzubringen – und weil ihr außerdem klar sein musste, dass er ihr die Tabletten aus der Hand geschlagen hätte, bevor sie eine solche Menge schlucken konnte.
Sie ließ jedoch einen Großteil der Kapseln wieder in die Flasche zurückprasseln. Drei behielt sie in der Hand.
»Zwei sind die Höchstdosis«, sagte er.
»Die Höchstdosis ist mir scheißegal. Ich habe vor, mich auszuknocken. Ich muss schlafen, mich ausruhen, aber so einen Traum will ich nicht noch mal erleben, nie wieder.«
Ihr schwarzes Haar war schweißnass und klebte ihr in wirren Strähnen am Kopf wie die Schlangen auf dem Haupt der Gorgonen, die sie im Traum verfolgt haben mochten. Ungeheuer, die sie mit den Pillen zu bezwingen gedachte.
Sie ließ Wasser in ein Trinkglas rauschen, dann spülte sie die drei Kapseln mit einem großen Schluck hinunter.
Dusty, der neben ihr stand, hinderte sie nicht daran. Drei Tabletten waren kein Grund, den Notarzt zu rufen, um ihr den Magen auspumpen zu lassen, und eine leichte Benommenheit am kommenden Morgen hatte vielleicht den Vorteil, dass sie dann auch ein wenig ruhiger sein würde.
Es erschien ihm nicht ratsam, sie darauf hinzuweisen, dass ein tieferer Schlaf sie möglicherweise nicht vor schlechten Träumen schützen würde. Selbst wenn sie in den Drachenarmen schrecklicher Albträume schlief, würde sie morgens ausgeruhter sein, als wenn sie überhaupt keinen Schlaf fand.
Als Martie das Glas absetzte, sah sie ihr Bild im Spiegel. Der Anblick, der sich ihr bot, jagte ihr den Schauer über den Rücken, der sich beim Trinken des eiskalten Wassers nicht hatte einstellen wollen.
Wie ein See das Blau im Winterfrost verliert, hatte Marties Gesicht in der Kälte ihrer Angst alle Farbe verloren. Die Wangen hell und durchsichtig wie Eis. Die Lippen mehr lila als rot, mit trockenen, zinkgrauen Hautfetzen, die sich vom heftigen Reiben mit den Händen gelöst hatten.
»O Gott, sieh dir das an, das bin ich«, sagte sie. »Sieh es dir an!«
Dusty wusste, dass sie weder von ihrem schweißnassen, wirren Haar noch von ihrem totenbleichen Gesicht sprach, sondern von dem verhassten Etwas, das sie in der Tiefe ihrer blauen Augen zu sehen glaubte.
Ein Wasserrest schwappte aus dem Glas, als sie ausholte, aber Dusty hielt ihre Hand fest, bevor sie es gegen den Spiegel schleudern konnte, und entwand es ihrem klammernden Griff. Wasser spritzte auf die Fußbodenkacheln.
In panischer Angst schreckte sie vor seiner Berührung zurück und prallte dabei so heftig gegen die Wand, dass die Tür der Duschkabine im Rahmen klapperte.
»Komm mir nicht zu nah! Um Himmels willen, du hast ja keine Ahnung, wozu ich fähig bin, welche furchtbaren Dinge ich tun könnte!«
Halb krank vor Sorge sagte er: »Martie, ich habe keine Angst vor dir.«
»Wie weit ist es vom Kuss zum Biss?«, stieß sie mit einer Stimme hervor, die vor Entsetzen heiser und brüchig war. »Wie bitte?«
»Kein großer Schritt vom Kuss zum Biss, mit deiner Zunge in meinem Mund.«
»Martie, bitte …«
»Vom Kuss zum Biss. Eine Kleinigkeit, dir die Lippen zu zerfetzen. Woher willst du wissen, dass ich es nicht könnte? Woher willst du wissen, dass ich es nicht tun würde?«
Wenn sie jetzt noch nicht auf dem Höhepunkt einer Panikattacke angelangt war, dann raste sie im Geschwindschritt darauf zu, und Dusty hatte keine Ahnung, wie er sie aufhalten, wie er auch nur ihr Tempo verlangsamen sollte.
»Sieh dir meine Hände an«, forderte sie ihn auf. »Die Fingernägel. Plastiknägel. Warum glaubst du, dass ich dir nicht die Augen damit auskratzen könnte?«
»Martie, das ist nicht …«
»Da ist etwas in mir, das ich zuvor noch nie gesehen habe, etwas, das mich zu Tode erschreckt, und das könnte etwas Entsetzliches tun, glaub mir, es könnte mich dazu bringen, dir die Augen auszukratzen. Du solltest dich zu deinem eigenen Besten anstrengen, es auch zu sehen, und du solltest dich davor fürchten.«
Eine Flutwelle der Gefühle schlug über Dusty zusammen, schreckliches Mitleid und ungestüme Liebe zerrissen ihm in wildem Gegenstrom das Herz.
Er
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