Stimmen der Angst
dass so viele Menschen immer das Denken anderer manipulieren wollen, und sie richten damit so viel Unheil an. So viel Unheil. Du kannst nicht wissen, wie das hier ausgeht. Keiner von uns weiß es.«
»Ich weiß es«, sagte sie bestimmt und strich ihm sanft mit der Hand über das nasse Gesicht. »Denn was du getan hast, hast du aus reiner Liebe getan, aus tief empfundener Liebe zu deinem Bruder, und daraus kann niemals etwas Schlechtes entstehen.«
»Klar. Und der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.«
»Genau wie der Weg zum Himmel, meinst du nicht auch?«
Ein Schaudern durchlief ihn, und er musste schlucken, weil ihn ein dicker Kloß im Hals am Sprechen hinderte. Als er seine Sprache wieder fand, drückte sich in seinen Worten eine noch tiefere Furcht aus. »Ich habe Angst davor, was passieren könnte, wenn es funktioniert … aber noch größere Angst habe ich, dass es nicht funktioniert. Ist das nicht Wahnsinn? Was ist, wenn ich mit den Fingern schnippe, und es ist immer noch der alte Skeet, der dann aufwacht, immer noch voller Selbstverachtung, immer noch verwirrt, immer noch der alte sanftmütige Versager? Es ist seine letzte Chance, und ich möchte so gern daran glauben, dass es funktioniert, aber was ist, wenn ich schnippe, und es stellt sich heraus, dass seine letzte Chance gar keine Chance war? Was dann, Martie?«
»Dann hast du es zumindest versucht.«
Die Kraft in ihrer Stimme richtete ihn auf, wie Martie es stets schaffte, ihm Kraft zu geben.
Dusty drehte sich zu Skeet um, der immer noch im Esszimmerbereich am Tisch saß, und nahm dessen Hinterkopf mit dem ungekämmten, zerzausten Haar, dessen mageren Hals, die zerbrechlichen Schultern in sich auf.
»Auf geht’s«, sagte Martie leise. »Gib ihm ein neues Leben.«
Dusty drehte den Wasserhahn zu.
Er riss Papiertücher von einer Rolle und trocknete sich das Gesicht.
Er knüllte die Tücher zusammen und warf sie in den Abfalleimer.
Er rieb die Handflächen aneinander, als könnte er das Zittern aus den Händen herausmassieren.
Klicketi-klick , Klauen auf Linoleum: Mit fragendem Blick kam Valet in die Küche getapst. Dusty strich dem Hund über den goldenen Kopf.
Endlich folgte er Martie ins Esszimmer, und sie setzten sich wieder zu Fig und Skeet an den Tisch.
Daumen und Mittelfinger wieder aneinander gelegt.
Und nun die Magie, gut oder schlecht, Hoffnung oder Verzweiflung, Freude oder Trauer, Sinn oder Leere, Leben oder Tod: Schnipp.
Skeet schlug die Augen auf, hob den Kopf, richtete sich gerade auf, blickte in die Runde und sagte: »Also, wann geht es los?«
Er hatte offensichtlich keinerlei Erinnerung an das, was passiert war.
»Typisch«, sagte Fig und unterstrich seine Bemerkung mit einem energischen Kopfnicken.
»Skeet?«, sagte Dusty.
Der Junge sah ihn an.
Dusty holte tief Luft und stieß mit dem Ausatmen den Namen hervor: »Dr. Yen Lo.«
Skeet legte den Kopf schief. »Hä?«
»Dr. Yen Lo.«
Jetzt wagte auch Martie einen Versuch: »Dr. Yen Lo.«
»Dr. Yen Lo«, fiel Fig in den Chor ein.
Skeet blickte in die erwartungsvollen Gesichter, darunter auch das von Valet, der die Vorderpfoten auf den Tisch gestützt hatte. »Was soll das sein, eine Rätselstunde, ein Quiz oder was? Ist dieser Lo eine Figur aus der Geschichte? Ich war nie gut in Geschichte.«
»Tja«, sagte Fig.
»Klare Kaskaden«, sagte Dusty.
»Klingt wie ein Geschirrspülmittel«, sagte Skeet verständnislos.
Dieser Teil der Rechnung war zumindest aufgegangen. Skeet war nicht mehr programmiert, nicht mehr manipulierbar.
Aber erst mit der Zeit würde sich erweisen, ob Dusty auch sein zweites Ziel erreicht hatte, ob er Skeet von den Qualen der Vergangenheit hatte befreien können.
Dusty schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Steh auf«, sagte er zu Skeet.
»Hä?«
»Komm schon, Bruderherz, steh auf!«
Beim Aufstehen rutschte dem Jungen die Klinikdecke von den Schultern. Er sah aus wie eine dürre Vogelscheuche aus Stecken und Stroh im Pyjama eines beleibten Mannes.
Dusty schlang die Arme um seinen Bruder und drückte ihn fest, ganz fest an sich, und als er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, sagte er: »Bevor wir gehen, gebe ich dir Geld für Vanille-Yoo-hoo, in Ordnung?«
62. Kapitel
Das Glücksrad drehte sich weiter zu ihren Gunsten. Sie bekamen noch zwei Plätze für die erste Maschine der United Airlines, die am nächsten Morgen vom John Wayne Airport auf dem Flug nach Denver in Santa Fe zwischenlandete. Über eine seiner
Weitere Kostenlose Bücher