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Stimmen der Angst

Stimmen der Angst

Titel: Stimmen der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Wäldchen gelaufen war, das Haus, in dem selbst die Erwachsenen an einem verschneiten Weihnachtstag an das Christkind glaubten, der Inbegriff des Hauses einer Bilderbuchgroßmutter. Obwohl ein solches perfektes Haus – und die dazugehörige vollkommene Großmutter – nur in den Träumen der Menschen existierte, glaubte eine ganze Nation gefühlsduseliger Nostalgiker, dass genau so die Häuser aller Großmütter dieser Welt auszusehen hatten. Schieferdach mit einem begehbaren Gesims vor den Fenstern. Die Mauern mit silbrig verwitterten Zedernholzschindeln verkleidet. Fensterrahmen und Klappläden mit weißglänzendem Schiffslack gestrichen. Eine breite Veranda mit weißen Korbschaukelstühlen und einer Hollywoodschaukel und ein gepflegter Garten, in dem jedes der üppigen Blumenbeete mit einem niedrigen weißen Palisadenzäunchen eingefriedet war. Wäre es auf Cape Cod oder Martha’s Vineyard gewesen, so hätte hier in einem bestimmten Augenblick eines zurückliegenden Tages Norman Rockwell im Vorgarten vor einer Staffelei sitzen und zwei allerliebste Kinder malen können, die eine Gans mit einem halb zur Fliege gebundenen roten Band um den Hals jagten, während im Hintergrund ein Hund ausgelassen herumtollte.
    Hier in Malibu jedoch, auf einem niedrigen Hang über der Pazifikküste gelegen, zu deren palmenbestandenem Strand eine Treppe hinunterführte, wirkte das Haus selbst an einem milden Wintertag fehl am Platz. Schön, elegant, architektonisch gut durchdacht und solide gebaut, aber eben doch fehl am Platz. Wenn hier irgendjemandes Großmutter wohnte, hatte sie mit Sicherheit neonblaue Fingernägel, wasserstoffblondierte Haare, einen mit Kollagenspritzen aufgeplusterten Kussmund und Silikonbrüste. Das Haus war eine glänzende Scheinwelt, hinter deren Mauern dunklere Wahrheiten beheimatet waren, und sein bloßer Anblick hatte auf Dusty – dessen fünfter Besuch dies war, seitdem er vor bald zwölf Jahren im Alter von achtzehn ausgezogen war – den Effekt, den er schon immer auf ihn gehabt hatte: Ein eiskalter Schauer lief ihm nicht nur den Rücken hinunter, sondern mitten durchs Herz.
    Natürlich war das Haus nicht schuld. Es war schließlich nur ein Haus.
    Dennoch sagte Dusty, als sie die Eingangstreppe hinaufstiegen, nachdem sie das Auto in der Auffahrt geparkt hatten: »Cirith Ungol.«
    Er verdrängte den Gedanken an ihr kleines Häuschen in Corona del Mar. Sofern es wirklich abgebrannt war, wie Ahriman behauptete, war Dusty noch nicht bereit, das volle Ausmaß der emotionalen Erschütterung, die das für ihn bedeutete, an sich heranzulassen. Ein Haus ist nur ein Haus, sicher, und materieller Besitz kann ersetzt werden, aber wenn man in einem Haus gelebt und geliebt hat und wenn man schöne Erinnerungen damit verbindet, dann kann man nicht anders, als seinen Verlust zu betrauern.
    Er verdrängte auch den Gedanken an Skeet und Fig. Wenn Ahriman die Wahrheit sagte und er beide erschossen hatte, dann war in die Welt und in sein Herz eine Dunkelheit eingezogen, die es am Vortag noch nicht gegeben hatte, eine Dunkelheit, die für den Rest seines Lebens nicht mehr von ihm weichen würde. Der mögliche Verlust seines problembeladenen, aber innig geliebten Bruders hatte ihn innerlich betäubt, wie ja auch zu erwarten war; was ihn jedoch verwunderte, war die tiefe Erschütterung, die er beim Gedanken an Figs Tod empfand. Der stille, fleißige Maler war bestimmt ein eigenartiger Mensch gewesen, aber er hatte auch ein freundliches, gutmütiges Wesen gehabt, und die Lücke, die er in Dustys Leben hinterließ, hatte die Größe und Form einer lockeren, aber doch aufrichtigen Freundschaft.
    Seine Mutter, Claudette, öffnete ihnen die Tür, und wie immer fühlte sich Dusty von ihrer Schönheit überwältigt und entwaffnet. Mit ihren zweiundfünfzig Jahren sah sie aus wie fünfunddreißig; und mit fünfunddreißig hatte sie einen überfüllten Raum nur zu betreten brauchen, um die Blicke aller Anwesenden auf sich zu ziehen, eine Wirkung, die sie vermutlich auch mit fünfundachtzig noch erzielen würde. Sein Vater, der zweite ihrer vier Ehemänner, hatte einmal gesagt: »Vom Tag ihrer Geburt an war Claudette so schön, dass man sie hätte fressen können. Jeden Tag schaut die Welt sie an, und das Wasser läuft ihr im Mund zusammen.« Das war so wahr und treffend, dass Trevor, sein Vater, es wohl eher irgendwo gelesen hatte, als dass er selbst darauf gekommen war; es klang vielleicht im ersten Moment grob, aber das war es

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