Stimmen der Angst
stellte die Flasche ab, betrachtete gedankenverloren ihre Hände und faltete sie auf dem Tisch. »Also … ich weiß es nicht.«
»Sind wir durch den Kaninchenbau gefallen und bei der Teeparty gelandet?«, rief Martie entnervt aus. »Was heißt hier, du weißt es nicht? Schätzchen, du erfährst, dass er eine Affäre hat, und willst nicht wissen, warum ?«
Susan rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. »Wir haben nicht viel darüber gesprochen.«
»Ist das dein Ernst? Das bist doch nicht du, Susan. Du bist kein Drückeberger.«
Schleppender als sonst und mit so belegter Stimme, als wäre sie gerade erst aus tiefem Schlaf erwacht und noch nicht bei vollem Bewusstsein, sagte Susan: »Wir haben ansatzweise darüber gesprochen, ja, und das könnte auch die Ursache meiner Agoraphobie sein, aber wir haben uns nicht über die schmutzigen Details unterhalten.«
Das Gespräch hatte eine so seltsame Wendung genommen, dass Martie eine verborgene und bedrohliche Wahrheit hinter den Worten zu spüren glaubte, eine nicht greifbare Wahrheit, die vielleicht die Erklärung für die Krankheit ihrer gepeinigten Freundin liefern würde, wenn sie sie nur zu fassen bekam. Susans Äußerungen waren ebenso empörend wie vage. Beängstigend vage.
»Wie hieß die Frau?«, fragte Martie.
»Ich weiß es nicht.«
»Du liebe Zeit! Wollte Eric es dir nicht sagen?«
Als Susan endlich den Kopf hob, blickten ihre Augen ins Leere, als würde sie nicht Martie ansehen, sondern eine andere Person in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. »Eric?« Sie sprach den Namen in einem Ton so tiefer Verwunderung aus, dass Martie sich unwillkürlich umdrehte und nachsah, ob Eric unbemerkt den Raum betreten hatte. Er war nicht da. »Ja, Susan, du erinnerst dich doch an den guten alten Eric?
Herr des Hauses. Ehebrecher. Schweinehund.«
»Ich habe es nicht …«
»Was?«
Susans Worte waren jetzt nur noch ein Flüstern, und ihre Miene war völlig ausdruckslos, so leblos wie ein Puppengesicht. »Ich habe es nicht von Eric erfahren.«
»Wer hat es dir dann erzählt?«
Keine Antwort.
Der Wind hatte nachgelassen, der tosende Lärm hatte sich gelegt. Aber mit seinem kalten Wispern und verstohlenen Gurren zerrte er viel stärker an den Nerven als zuvor mit seinem wütenden Brüllen.
»Susan? Wer hat dir gesagt, dass er in der Gegend herumvögelt?«
Susans makellose Haut, die sonst die Farbe von Pfirsichen und Sahne hatte, war jetzt so durchsichtig und gelblich weiß wie Magermilch. Eine Schweißperle hatte sich an ihrem Haaransatz gebildet.
Über den Tisch gebeugt, hielt Martie der Freundin eine Hand vor das Gesicht.
Susan sah sie offenbar überhaupt nicht. Sie blickte durch die Hand hindurch.
»Wer?«, hakte Martie leise nach.
Susans Stirn war plötzlich mit Schweißperlen übersät. Ihre Hände, die sie auf dem Tisch gefaltet hatte, waren jetzt so krampfhaft miteinander verschlungen, dass sich die Haut weiß
über den Knöcheln spannte. Die Fingernägel der Rechten hatten sich tief in die linke Handfläche gebohrt.
Geisterspinnen krochen Martie über den Nacken und tasteten sich über die Treppe ihres Rückgrats hinunter.
»Wer hat dir gesagt, dass Eric in der Gegend herumvögelt?« Susan bemühte sich, während sie immer noch wie gebannt auf eine unsichtbare Erscheinung starrte, zu sprechen, aber es kam kein Wort über ihre Lippen.
Es sah aus, als wäre sie wie durch Gespensterhand zum Schweigen gebracht worden. Das Gefühl, nicht allein im Raum zu sein, war so überwältigend, dass Martie erneut versucht war, sich umzudrehen, wohl wissend, dass auch diesmal niemand da sein würde.
Sie schnalzte mit den Fingern vor Susans Gesicht. Susan zuckte zusammen und blinzelte. Ihr Blick fiel auf die Karten, die Martie beiseite geschoben hatte, und ein ungläubiges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Du hast mich ja ganz schön zur Schnecke gemacht. Möchtest du noch ein Bier?« Sie war plötzlich wie ausgewechselt.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Martie. »Welche Frage?«
»Wer hat dir gesagt, dass Eric in der Gegend herumvögelt?«
»Ach, Martie, das ist doch sterbenslangweilig.«
»Ich finde es nicht langweilig. Du …«
»Ich will nicht darüber reden.« Das unbekümmerte Desinteresse in Susans Ton erstaunte Martie. Wut oder Verlegenheit wären ihr der Situation angemessener erschienen. Susan wedelte mit der Hand, als wollte sie eine lästige Fliege ver scheuchen. »Es tut mir Leid, dass ich davon angefangen
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