Stirb leise, mein Engel
Pervers.«
»Vielleicht.«
»Wie auch immer. Bruno kann Androsch in Ruhe lassen«, meinte Sascha nach kurzem Schweigen. »Anscheinend hat der sich auch so schon verdächtig gemacht. Meine Mutter hat ihn jedenfalls befragt. Sie will nichts Genaues sagen, aber ich soll erst mal nicht mehr zu ihm gehen.«
»Oh.«
»Angeblich war es nur, weil Laila auch zu ihm zur Therapie gegangen ist. Aber es hörte sich so an, als sei da irgendwas im Busch. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er seine Patientinnen … Das will mir nicht in den Kopf.« Nach ein paar Sekunden Schweigen setzte er hinzu: »Was denkst du?«
»Keine Ahnung. Ich kenne Androsch nicht. Aber wenn da wirklich was war, dann …«
Sie kratzte mit dem Nagel des kleinen Fingers am Balkongeländer herum.
»Was dann?«
»Na ja … Wenn er allen diesen Mädchen … Dann wär’s doch gut für ihn, dass sie tot sind und nichts mehr gegen ihn … Und als Therapeut, der sich mit Psychotricks auskennt, wüsste er sicher auch, wie er jemanden dazu bringen kann, sich das Leben zu nehmen. Also, theoretisch, meine ich.«
Sascha sah sie fassungslos an. »Ihr spinnt doch, ihr beiden! Erst Missbrauch, und jetzt auch noch Mord!«
Joy legte die Hand auf seinen Unterarm. »Warte!«
Er hatte gar nicht vorgehabt wegzugehen.
»Ich sag ja nicht, dass ich das glaube. Es kann auch so sein, wie du meinst. Wir sollten bloß nichts ausschließen.«
Ihre Hand lag immer noch auf seinem Arm. Er zog ihn weg, schob die Faust in die Hosentasche. Sie war vielleicht nicht auf Brunos Seite, aber auf seiner Seite war sie auch nicht. Anscheinend hielt sie sich alle Möglichkeiten offen. Etwas, das sie offenbar gerne tat. Vielleicht sogar brauchte. Aha, dachte er. Wieder was gelernt.
»Ich hab heute dieses Mädchen getroffen«, sagte er, »diese Freundin von Natalie … Mareike.«
Die Hand, die eben noch auf seinem Arm und dann auf dem Geländer gelegen hatte, verschwand in der Jackentasche.
»Und?«
»Sie will sich umhören. Sie kennt Leute, die Natalie kannten, und … vielleicht erfährt sie ja was.«
Joy sah ihn nur an.
»Wir müssen unbedingt Tristan finden. Er ist der Schlüssel. Ich weiß das einfach, keine Ahnung, warum.«
Joy schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Wen meinst du eigentlich mit
wir
?«
25
DER REGEN PRASSELTE heftig gegen das Fenster des Klassenzimmers und erzeugte dabei ein einschläferndes Hintergrundgeräusch, das Joy den letzten Rest Konzentration raubte. Nach außen tat sie so, als würde sie dem Referat mit größter Aufmerksamkeit folgen, doch in Wirklichkeit bekam sie von der Einführung in das Drama
Frühlings Erwachen
, die eine Mitschülerin mit allerlei Medieneinsatz bot, kaum etwas mit. Sie musste dauernd an Sascha denken. Oder vielmehr an diese Mareike, mit der er sich neuerdings rumtrieb. Dass er nicht viel über sie erzählte, stachelte ihre Neugierde nur umso mehr an. Um ein Haar hätte sie ihn letzte Nacht auf dem Balkon nach ihr gefragt. Warum hatte sie es eigentlich nicht getan? War doch nichts dabei. Schließlich waren sie Freunde.
Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn Sascha plötzlich eine Freundin hätte. Ein seltsames, undeutliches Gefühl kam in ihr auf. Sascha war bestimmt treu. Kein bisschen so wie diese Typen, die es bei jeder probieren mussten, um sich selbst und ihren Kumpels zu beweisen, wie cool sie waren. Sascha war einer, der gleich ernst machte, da hatte sie keinen Zweifel. Zärtlich war er bestimmt auch. Ein Junge mit derart sanften Augen und so feinen Händen musste einfach zärtlich sein. Ich hoffe bloß, er hat Geschmack und diese Mareike ist okay, dachte sie. Sicher war sie nicht. Es war nun einmal eine Tatsache: Die nettesten Jungs standen oft auf die bescheuertsten Mädchen.
Das einzig Gute an der Schule war, dass irgendwann selbst die ödeste Stunde zu Ende ging. Und diese war auch noch die letzte vor dem Wochenende. Kaum hatte es geklingelt und die Weingart die Deutschstunde offiziell für beendet erklärt, schwappten wie durch einen geheimnisvollen Magnetismus sofort dieselben Grüppchen zusammen, die schon morgens und in den Pausen aneinanderklebten und sogar gemeinsam auf die Toilette gingen. Joy dagegen schwamm wie ein vereinzeltes Stück Treibholz im tosenden Strom der Schüler durch den Gang in die Aula und dann in den Hof.
Es goss noch immer in Strömen. Wie schon den ganzen Vormittag. Deshalb hatte Joy am Morgen nicht das Rad genommen, sondern Bus, U-Bahn und Tram. Bis zur Haltestelle war
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