Stirb leise, mein Engel
von verdient.
Und mich haben sie auch verdient.
Ich bin ihre Saat, und sie ist aufgegangen und hat schon Früchte getragen.
GOTTVATERS AUGEN. KALTE Sonnen. Kälte, die einen verbrennt.
Seine dünne, spitze Stimme: schneidender Wind, der über Eisfelder pfeift.
Wenn er mich früher ansah, mit dieser Erwartung in seinem Blick, dass ich alles sein könnte, was er erhofft hat – und dann die Enttäuschung, dass ich es nicht war und nie sein würde. Und die Enttäuschung in mir selbst, dass ich es nie sein würde.
Tristan zu sein und nicht zu sein. Die unlösbare Aufgabe.
Die Alte Schlampe, die mir heute noch vorwirft – stumm, mit ihren bösen Blicken oder mit hinterhältigen Anspielungen –, dass ich nicht bin, was ich sein sollte, und dass damit alles anfing. Als wäre es mein Unvermögen. Meine Schuld. Alles meine Schuld.
Aber wie kann es meine Schuld sein? Nein, es ist nicht meine Schuld. Es ist alles eure Schuld! Einzig und allein eure Schuld! Ihr seid Monster! Ungeheuer!
MAL WIEDER ZUFÄLLIG mein altes Hass-Buch in die Finger gekriegt und darin gelesen.
Stelle mir vor: Ich und die Alten Säue sitzen am Tisch und fressen. Ich habe ihnen aber Rattengift unter ihren Fraß gemischt. Als sie es merken, ist es schon zu spät. Das Gift reißt ihre Eingeweide auf, und sie verbrennen von innen und leiden unendliche Qualen. Sie verrecken vor meinen Augen. Wie geil das wäre!
Schon vor Jahren habe ich das geschrieben. Jetzt wirkt es irgendwie prophetisch. Auch wenn ich nicht Gottvater und der Alten Schlampe das Zyankali zu fressen gebe, müssen sie irgendwann trotzdem Gift schlucken. Ich kann den Tag kaum erwarten, an dem sie erfahren, was ich getan habe. Alle werden sehen, dass es eigentlich ihr Werk ist, und alles, was sie geheim halten wollen, ihre ganzen dreckigen Geheimnisse, ihr ganzes verschissenes Leben, wird offenbar werden und ausgemistet. Ich hoffe so, dass ich noch am Leben bin, wenn das passiert.
27
CHEMIE IST KACKE! Sascha rahmte diesen Satz in seinem Heft mit einem wild wuchernden Muster ein. Seit acht Uhr lernte er für die Klausur. Wenn er nicht gerade an Joy dachte. Er überlegte die ganze Zeit, wie sie am Abend zuvor noch mal verblieben waren. Sollte sie ihn anrufen oder er sie? Er durfte jetzt keinen Fehler mehr machen, um sie nicht noch stärker zu verärgern.
Seit neun war seine Mutter auf und geisterte in der Wohnung umher. Gegen zehn klopfte sie sachte an seine Tür und machte sie einen Spalt auf. Als sie sah, dass er nicht mehr schlief, kam sie ganz herein.
»Du bist schon fleißig. Das lobe ich mir. Was machst du?«
Er drehte sich nicht zu ihr um. »Chemie. Montagmorgen ist Klausur.« Er blätterte im Buch eine Seite vor und wieder zurück, um beschäftigt auszusehen.
»Ich fahre ein paar Stunden in die Stadt. Kann ich dir was mitbringen?«
Er schüttelte den Kopf. »Viel Spaß.«
Sie ging wieder. Er hörte sie noch ein wenig in der Wohnung herumlaufen, dann rief sie einen Abschiedsgruß den Flur herab und war weg.
Er nahm sein Handy. Scheiß drauf, wer wen anrufen sollte, dachte er und wählte Joys Nummer. Es meldete sich nur die Mailbox. »Hi, ich bin’s«, sagte er nach dem Piepton. »Meine Mutter ist gerade weg, wieso kommst du nicht rüber zu einem kleinen Brunch? Ich lerne seit acht Uhr und könnte eine Abwechslung vertragen. Melde dich, ja?«
Nach einer Stunde versuchte er es noch einmal. Wieder nur die Mailbox.
Ein paar Minuten später klingelte sein Handy endlich. Doch im Display stand eine unbekannte Nummer. Erst mit einigen Sekunden Verzögerung erkannte er, dass es Mareike war. Scheiße, dachte er. Er hatte ihre SMS von gestern noch immer nicht beantwortet.
»Alles okay bei dir?« Sie klang kein bisschen sauer, sondern sogar ziemlich gut gelaunt.
»Wie man’s nimmt. Ich zieh mir Chemie rein. Total öde.«
»Ich war gerade bei Tristans Haus und hab mich ein wenig umgehört. Ganz unauffällig natürlich. Scheint so, als wäre er seit Tagen nicht mehr hier aufgetaucht. Vielleicht können wir heute Nacht schon ausrücken. Halte dich also bereit. Das wollte ich dir nur sagen.«
»Super.«
»Ich melde mich wieder.«
Sie hängte sich ganz schön rein. Zu sehr, für seinen Geschmack. Auch wenn er eines zugeben musste: Mit ihr war er innerhalb eines Tages weiter gekommen als mit Joy in zwei Wochen.
JOY STAND VOR dem Schaufenster und betrachtete die ausgestellten Gemälde und Skulpturen. Nichts, was sie sich übers Sofa gehängt oder ins Wohnzimmer
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