Stirb leise, mein Engel
gestellt hätte. Sie war allerdings auch nicht wegen der Kunst hier, sondern um ein paar Dinge herauszufinden. Dank des Internets und der Angaben, die Sascha hatte fallen lassen, war es nicht schwer gewesen, die Galerie zu finden, in der er mit Mareike war. Sollte sie wirklich reingehen? Es war nicht okay, anderen Leuten nachzuspionieren. Doch an dieser Mareike war irgendwas faul. Schon allein die Idee, einen Einbruch in eine Galerie vorzutäuschen, war mehr als nur schräg. Was wollte sie damit beweisen? Irgendwann zog sie Sascha vielleicht in etwas noch viel Schlimmeres rein. Das musste sie verhindern.
Sie warf alle Skrupel über Bord und trat ein. Außer ihr war niemand da. Schon in der nächsten Sekunde kam aus einem Nebenraum ein Mann auf sie zugeschossen. Schätzungsweise Mitte vierzig, Intellektuellen-Brille mit dickem, schwarzem Rahmen, gegelte Haare, Sakko und darunter ein T-Shirt mit V-Ausschnitt. Kein Zweifel: der Galerist.
»Was kann ich für Sie tun, junge Frau?«
Kaum hatte er sie mit einem raschen Blick abgeschätzt, verflog der kaufmännische Elan. Ein Mädchen in einer fleckigen Jacke, einem alten Rolli, einer an manchen Stellen fadenscheinigen Jeans und ausgelatschten Boots versprach keine fetten Geschäfte.
»Sind Sie der Besitzer?«
»Der bin ich. Warum?«
»Ich hätte da eine Frage.«
»Wer bist du denn überhaupt?«
»Ich heiße Joy Lennert.«
»Ich bin der Gerd. Gerd Watzke. Also, worum geht es?«
»Um ein Mädchen, dem Sie vor Kurzem erlaubt haben, nachts hierherzukommen. Ihr Name ist Mareike.«
Seine Miene verhärtete sich beinahe schlagartig, die Augen wurden schmal. »Und?«, fragte er spitz.
»Na ja, ich dachte mir, Sie könnten mir ein bisschen was über sie erzählen. Sie macht sich nämlich gerade an einen guten …, einen
sehr
guten Freund von mir ran, und weil sie mir ein bisschen seltsam vorkommt, dachte ich …«
»Du willst was über Mareike wissen?«, fragte er mit kaltem Zorn in der Stimme. »Komm mit, ich zeig dir was!«
Mit großen Schritten lief er los, sie folgte ihm in einen Nebenraum, an dessen Wänden Tuschzeichnungen auf aquarelliertem Untergrund hingen. Auf jede von ihnen war ein großes, rotes X gesprayt.
»Nicht, dass du denkst, das muss so sein«, sagte Gerd. »Das war Mareike.« Er sah sie scharf an. »Hat dein Freund bei der Aktion mitgemacht?«
»Ganz bestimmt nicht. Sascha ist ein Kunstfan. Er zeichnet selbst total super. So was … Nee, das würde er nie machen.«
Gerd winkte ab, sein Zorn verpuffte mit dem hilflosen Schnauben, das er von sich gab. »Ist ja auch egal. Interessiert keine Sau mehr. Schnee von gestern.«
»Ach. Und wieso?«
»Mareikes Vater hat alle Bilder gekauft. So, wie sie sind. Zu einem sehr, sehr guten Preis. Unter der Bedingung allerdings, dass es keine Anzeige gibt. Ich hätte das ja nicht gemacht. Ich hab auch meinen Stolz.« Ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen, das rasch verglomm. »Aber der Künstler wollte es so.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Na ja, ist ein armer Schlucker, der jeden Euro brauchen kann. Muss man auch wieder verstehen.« Er ging im Raum herum, schaute die verunstalteten Bilder an. »Wahrscheinlich wandern sie jetzt in den Müll. Es bricht mir das Herz.«
»Warum hat Mareike das denn gemacht?«
»Warum?«, fuhr er auf. »Keine Ahnung! Angeblich hab ich ihr die Tour vermasselt. Bloß weil ich einen Zettel hingelegt habe, dass sie unbedingt die Alarmanlage wieder anstellen soll, wenn sie geht. Was ist daran so schlimm? – Na ja, egal. War sowieso bescheuert, sie reinzulassen. Ich bin einfach zu gut. Zu nachgiebig. Das musste bestraft werden.«
Joys Mitleid hielt sich in Grenzen. Er steckte bestimmt eine hübsche Provision ein. Nur um die Bilder tat es ihr leid. Die waren wirklich schön.
»Wie gut kennen Sie Mareike denn?«
»Gut genug, dachte ich. Sie kam eines Tages rein, wir haben uns über die Exponate unterhalten, für ihr Alter weiß sie nicht nur eine Menge über Kunst, sie hat auch ein Auge dafür, und sie kam immer wieder … Seit einem oder eineinhalb Jahren geht das jetzt so. Ehrlich gesagt: Sie hat mir irgendwie leidgetan. Ich glaube, sie ist einsam.«
»Warum? Hat sie keine Freunde?«
»Sie war immer allein hier.«
»Und ihre Familie?«
»Von der hat sie immerzu geschwärmt. Dass sie so toll sind und ihr alle Freiheiten lassen und so. Na ja. – Ihr Vater ist irgend so ein Superanwalt für Konzerne. Dr. Sigmund Ahrens. Gesehen hab ich ihn nicht, er hat alles
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