Stirb leise, mein Engel
das Natalie nicht aufgefallen, als sie hier war?«
Mareike zuckte mit den Schultern. »Eine Ausrede lässt sich schnell erfinden. Und wenn sie in ihn verknallt war, hat sie sowieso alles geglaubt.«
Da hatte sie auch wieder recht.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Mareike wissen. »Sollen wir einfach mal schauen, ob er da ist?«
Ihre Hand fuhr zur Klingel.
»Nicht so schnell«, protestierte Sascha noch, aber es war zu spät, sie hatte schon auf den Knopf gedrückt.
Mareike grinste bloß. »Bleib locker. Wir können immer noch weglaufen. Dann war’s eben ein Klingelstreich.«
Nichts passierte.
M. Engelhart
war anscheinend nicht zu Hause. Oder er hatte keine Lust aufzumachen.
»Die Wohnung ging nach hinten raus. Schauen wir uns mal die andere Seite an.«
Wie sich zeigte, war die Rückseite des Hauses bis unters Dach eingerüstet.
»Na, wenn das kein Glücksfall ist«, frohlockte Mareike. »Das ist ja wie eine Einladung.« Sie kam jetzt immer mehr in Fahrt. Mit dem Zeigefinger zählte sie die Stockwerke ab und befand schließlich: »Das da oben müsste es sein.«
»Du willst da jetzt hoffentlich nicht hinauf. Mitten am Tag.«
Er traute ihr alles zu. Umso erleichterter war er, als sie sagte: »Natürlich nicht. Aber ich schulde dir noch einen Einbruch. Einen echten, meine ich.«
ERST ALS ER drin saß, fiel Sascha auf, dass er in München noch nie Taxi gefahren war. Nicht, dass es ihm wie etwas Besonderes vorkam. Er hatte es nur einfach noch nie getan. So wenig, wie Mareike anscheinend jemals einen Bus oder eine U-Bahn benutzt hatte.
»Halt dir die kommenden Abende frei«, trug sie ihm nun schon zum wiederholten Male auf. »Ich check die Lage, und wenn sich eine Gelegenheit ergibt, ruf ich dich an.«
»Du kannst dich doch nicht Abend für Abend auf die Lauer legen.«
»Warum nicht? So funktioniert Observation nun mal.«
»Ja, schon, aber … hast du sonst nichts zu tun? Und was sagen deine Eltern?«
Sie zuckte nur die Schultern.
»Warum machst du das, Mareike?«
»Aus dem gleichen Grund wie du.«
»Und der wäre?«
»Natalie.«
Okay, dachte er erleichtert. Also nicht für ihn. Er brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben.
»Und du musst ja Chemie lernen«, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu.
»Danke, dass du mich daran erinnerst.« Die Klausur auf Montagmorgen zu legen, war typisch für Chemie-Hansel, dem es anscheinend Spaß machte, seinen Schülern das Leben zu vermiesen.
»Musst du denn nie was für die Schule tun?«
Mareike zupfte einen nicht vorhandenen Fussel von ihrem Oberschenkel. »Ich geh nicht zur Schule. Nach der Zehnten hab ich hingeschmissen. Schule ist nur was für – na ja, jedenfalls nichts für mich.«
»Waren deine Noten so schlecht?«
Sie grinste schief, wie über einen schlechten Witz. »Nee, ich hatte nur Einsen. Hochbegabt, angeblich.«
»Krass. – Und was haben deine Eltern gesagt?«
»Sie haben natürlich versucht, mich davon abzubringen, aber weil sie das nicht konnten, haben sie es akzeptiert. Sie wollen nicht, dass ich etwas tun muss, das mich unglücklich macht.«
Sascha glaubte, nicht recht zu hören. Seine Mutter hätte ihn eher mit Handschellen an einen Heizkörper im Klassenzimmer gefesselt, als zuzulassen, dass er die Schule schmiss. In welcher Welt lebte Mareike? Jedenfalls nicht in seiner, so viel stand fest. Sie kam ihm immer mehr wie ein Alien vor.
»Aber … irgendwas musst du doch tun. Machst du eine Lehre? Oder ein Praktikum?«
»Eine Lehre? Bin doch nicht bescheuert und lass mir von einem Typen, der kaum bis fünf zählen kann, vorschreiben, was ich zu tun habe. Nee, ich guck noch ein wenig, und dann entscheide ich mich, was ich tu. Hat ja keine Eile.«
»Endlich erzählst du mal ein bisschen von dir«, sagte er nach kurzem Schweigen.
Sie überlegte kurz, so als sei ihr erst durch seine Bemerkung aufgefallen, dass sie etwas von sich preisgegeben hatte.
»Das ist doch alles total unwichtig.«
»Finde ich nicht. Ich find’s eher seltsam, dass ich nichts von dir weiß. Nicht mal deinen Nachnamen kenne ich.«
»Was willst du damit? Namen sagen rein gar nichts aus.« Mareike sah ihn argwöhnisch an. »Oder willst du mir hinterherschnüffeln?«
»Quatsch. Aber es ist doch normal, dass man von seinen Freunden bestimmte Dinge wissen will.«
Mareike schwieg. Immer wieder dachte Sascha, sie werde gleich etwas sagen, aber dann sagte sie doch nichts. Manchmal schaute er verstohlen zu ihr hinüber, doch sie wirkte so, als sitze sie hinter
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