Stirb leise, mein Engel
herum, seine Augen sagen: Tu was! Seine Hand fasst nach mir. Ich weiche aus, aber irgendwas an mir kriegt er zu fassen. Ein heftiger Ruck geht durch meinen Kopf, ein kurzer Schmerz läuft über die Kopfhaut. Die Perücke! Er hat mir die Perücke abgerissen! In einem Reflex fasse ich an meinen Kopf. Nur noch das Haarnetz ist da. Mirko hat keine Zeit mehr, auf seine Entdeckung zu reagieren, er fällt zur Seite, zuckt und röchelt, und dann ist es schon vorbei. Er bewegt sich nicht mehr. Ist wahrscheinlich schon tot.
Mein Puls jagt.
Das Blut schießt durch meine Adern und rauscht in meinen Ohren.
Ich spüre das Pulsieren jeder Zelle in mir.
Ich muss atmen, sonst kippe ich um.
Ein.
Aus.
Ein.
Es geht mir gut. Sehr gut, sogar.
Ich ziehe mir das Haarnetz vom Kopf. Lose Haarklammern hängen daran. Ich knülle alles zusammen und stecke es in meine Jackentasche. Wahrscheinlich würdest du die Perücke gerne behalten, Alter, so wie du deine Finger hineinkrallst, aber du musst sie mir leider zurückgeben. Ich ziehe mir Wegwerfhandschuhe über. Man muss nicht mehr Fingerabdrücke an der Leiche hinterlassen als unbedingt nötig. Es ist gar nicht leicht, ihm die Perücke abzunehmen. Nicht nur im Leben, auch im Tod ist er eine nervtötende Klette. So wie es aussieht, ist das Ding ziemlich im Eimer. Die Haube ist zerrissen. Scheiße. Aber darüber mache ich mir später Gedanken.
Wo hat er sein Handy? In keiner der Jackentaschen. Hosentaschen, also. Widerwillig greife ich hinein. Ekelhaft. Na endlich, da ist es ja. Es ist aus. Ich mache es an.
PIN
eingeben. Zum Glück hatte er keine Geheimnisse vor mir. Neue
SMS
. Text eingeben.
Liebe Mama,
ich kann nicht mehr. Was ich getan hab, ist schlecht. Aber es tut mir nicht leid. Diese Schlampen haben es nicht anders verdient. Sie haben Papa angemacht, und er war viel zu schwach. Eigentlich wollten sie eh sterben, ich hab ihnen nur geholfen. Ich hoffe, Du hasst mich nicht wegen dem, was ich getan hab. Es war auch für Dich. Aber mach Dir keine Vorwürfe. Jetzt ist alles gut. Mirko.
Das sollte mir wenigstens eine Woche verschaffen. Mehr Zeit brauche ich nicht, um zu überlegen, wie es weitergehen soll.
DAS HAT DOCH ganz gut geklappt. Wie lange wird es dauern, bis Mirko gefunden wird? Heute noch? Oder erst morgen? Hier kommen nicht so viele Leute vorbei, die Unterführung geht ja nur rüber in den Park.
Und wenn die Bullen sich tatsächlich mit Mirko als Schuldigem begnügen und nicht weiter nachforschen? Wenn sie alle Hinweise, dass er es nicht gewesen sein kann, übersehen? Wäre das möglich? Vielleicht, wenn es keine weiteren Toten mehr gibt?
Spanien. Italien. War eigentlich nur so dahingesagt. Ich will da auch gar nicht hin. Was soll ich da? Aber trotzdem klingt es schön. Es klingt nach … ich weiß nicht … Zukunft, oder so.
Apropos Zukunft. Die Perücke ist im Arsch, die kann ich wegschmeißen. Was mach ich jetzt? Die blonde geht nicht, die ist viel länger. Na egal, war ich eben beim Friseur. Und Sascha hat mich als Tristan ja nicht wirklich gesehen. Nur von Weitem, von hinten. Das Risiko kann ich eingehen. Aber ob er auf kurze Haare steht?
Am besten, ich teste das gleich mal.
Ich nehme das Handy aus der Jackentasche und wähle die Nummer. Es dauert ein wenig, bis er rangeht.
»Ja?«
Er klingt verschlafen.
»Hab ich dich geweckt?«
»Schon okay.«
»Können wir uns sehen? Ich hab eine Überraschung. Sozusagen.«
»Jetzt ist nicht so gut, aber in zwei Stunden oder so.«
»Kein Problem.«
»Und wo?«
»Soll ich zu dir kommen?«
»Zu mir?«
»Ja.«
»Klar. Super. Bis dann.«
Seine Stimme. Mein Herz jagt noch ein wenig mehr.
Spanien. Italien.
Sascha. Ich.
Vielleicht doch?
31
UNRUHIG LIEF JOY vor Brunos Haustür auf und ab. Sie musste wissen, was los war, was Bruno getan hatte, aber sie hatte auch eine Riesenangst davor, ihn zu fragen. Wie sollte sie das, was sie quälte, ansprechen? Sie konnte doch schlecht einsteigen mit: Ach, was ich dich fragen wollte: Hast du Dr. Androsch umgebracht?
Vielleicht ist er gar nicht zu Hause, dachte sie jetzt. Sie hatte es lieber unterlassen, vorher anzurufen, aus Angst, Bruno könnte einfach auflegen. So wie das letzte Gespräch gelaufen war, hielt sie alles für möglich.
Schließlich nahm sie ihr Herz in die Hand, trat an die Klingelleiste und drückte den Knopf. In ihrer Brust wummerte ein kleiner Presslufthammer.
»Wer ist da?«, kam es aus der Sprechanlage.
»Bruno? Bist du das?«
»Nee, ich bin
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