Stirb leise, mein Engel
Paul.«
»Ist Bruno da?«
»Nee, aber der müsste gleich hier aufschlagen. Komm rauf.«
»Ich warte lieber hier unten.«
Vielleicht hatte er es nicht gehört, jedenfalls surrte der Türöffner. Doch sie blieb, wo sie war, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und der Frage: Ist Bruno ein Mörder?
Ein paar Minuten später kam er, einen Rucksack auf den Schultern, eine prallvolle Tüte in der Hand. Sein Gang glich einem unrund laufenden Rad. Als er bemerkte, dass er erwartet wurde, verlangsamte er sein Tempo. Beherzter als sie in Wirklichkeit war, ging sie ihm entgegen.
»Willst du zu mir?«, empfing er sie und klang dabei kein bisschen erfreut. Er sah wieder so aus wie bei ihrer ersten Begegnung: struppige Haare, unrasiert, ungewaschen.
»Zu wem sonst?«
»Und warum?«
»Bloß was fragen.«
»Aha. Und was?«
Sie suchte nach den passenden Worten, was nicht leicht war, und schon gar nicht, wenn sie angesehen wurde, als sei jede Sekunde, die sie ihm stahl, eine neue Provokation.
»Hast du heute schon in die Zeitung geguckt?«
»Ach, deshalb bist du hier. Willst du dich bei mir entschuldigen?«
»Ich? Warum?«
»Na, weil ich mit allem recht hatte.«
»Das sind alles nur Verdächtigungen. Es ist nichts bewiesen. Und selbst wenn, dann –«
»Lass stecken und sag, was du von mir willst.«
»Weißt du, dass Dr. Androsch verschwunden ist?«
»Hab’s gelesen. Und?«
»Hast du … Ich meine, warst du noch mal …?«
Er sah sie mit fassungslosem Staunen an. »Du kommst her, um mich
das
zu fragen?« Verächtlich schnaubend, ging er an ihr vorbei, wechselte die Tüte in die linke Hand und kramte mit der rechten in der Hosentasche nach seinem Schlüssel.
Joy trat neben ihn und packte seinen Arm. »Hast du was mit Androschs Verschwinden zu tun, Bruno? Du musst es mir sagen.«
Er hatte nur einen kurzen Seitenblick für sie übrig. »Ich muss gar nichts. Und alles, was ich dir sage, ist das: Du bist echt das Letzte!« Er steckte den Schlüssel ins Schloss, sperrte aber nicht auf. »Was wirst du tun? Hetzt du mir die Bullen auf den Hals?«
»Nicht, wenn du mir schwörst, dass du nichts getan hast«, rief sie verzweifelt.
»Schwören! Jetzt muss ich also schon schwören.« Bruno wandte den Kopf und sah sie verächtlich von oben herab an. »Tu, was du nicht lassen kannst.« Dann schloss er die Tür auf und ging rein.
Sie blieb allein auf der Straße zurück.
Idiot, dachte sie.
NERVÖS STAND JOY vor dem Polizeipräsidium. Gut möglich, dass sie sich gleich vollkommen lächerlich machte. Aber was, wenn Bruno Androsch irgendwo halb tot hatte liegen lassen und der nur sterben musste, weil er nicht rechtzeitig gefunden wurde? Konnte doch sein! Und dann hätte sie ihn auch auf dem Gewissen, irgendwie.
Sie ging auf den Eingang zu. Hinter der schweren Tür saß ein Pförtner, der sie mit einem Nicken begrüßte. »Ich möchte zu Ilona Schmidt«, sagte Joy.
»Weiß sie, dass Sie kommen?«
»Nein.«
»Ich ruf mal an. Name?«
»Joy Lennert. Ich bin eine Freundin von Frau Schmidts Sohn.«
»Dann ist es privat?«
»Nein. Es geht um Dr. Androsch. Der Mann, der verschwunden ist.«
Das Telefonat war kurz. Der Pförtner rief einen uniformierten, jungen Polizeibeamten, der gerade hereinkam, zu sich und bat ihn, Joy zum Büro von Saschas Mutter zu begleiten. Schweigend ging sie neben ihm her zum Aufzug und fuhr mit ihm in den zweiten Stock. Sie musste dauernd seine Waffe anstarren, deutete schließlich darauf und fragte: »Haben Sie die schon mal benutzt?«
»Nicht außerhalb des Schießstands. Zum Glück.«
Der Fahrstuhl hielt an, die Türen öffneten sich. Der Polizist brachte Joy zu einem Büro am Ende eines Ganges. Die Tür stand offen. Trotzdem klopfte er an und rief hinein: »Frau Kollegin, Besuch für Sie!«
Saschas Mutter löste den Blick von ihrem Monitor und wies auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Setz dich.« Während Joy Platz nahm, schloss der Polizist hinter ihr die Tür. »Ich hab nicht viel Zeit. Also, was ist?«
Joy räusperte sich, ehe sie begann: »Es geht um Dr. Androsch. Ich weiß nicht, ob es was zu bedeuten hat, aber …« Sie erzählte von den Einträgen in Alinas Tagebuch, von den Schlüssen, die Bruno daraus gezogen hatte, von der Attacke auf Androsch und dem Auftauchen von Androschs Sohn. »Ich war nur dabei, um Bruno von einer noch größeren Dummheit abzuhalten«, versicherte sie. »Wir haben uns darüber zerstritten. Und jetzt frage ich mich, ob Bruno Dr. Androsch nicht noch mal
Weitere Kostenlose Bücher