Stirb mit mir: Roman (German Edition)
sagte es trotzig, denn er wusste, dass jemand, der ein Handwerk unterrichtete, es nicht sehr weit gebracht hatte. »Es wird höchste Zeit, dass du lernst, wie es ist, selbst Geld zu verdienen.«
Der letzte Satz war ein Seitenhieb. Ich hatte meinen Eltern neulich erst erklärt, ihr wöchentliches Taschengeld reiche nicht aus. Wenn ich mir einen Lippenstift gekauft hatte, war nichts mehr übrig. Wie sollte ich da noch etwas unternehmen.
Lee hatte die Schule verlassen und arbeitete als Bademeisterin im hiesigen Schwimmbad. Die Stelle war nicht gut bezahlt, aber sie hatte nur die Mittlere Reife. Sport und Kunst – ihre beiden Hauptfächer – hatte sie mit einer Drei abgeschlossen. Aber sie war glücklich. Lee war eine Wasserratte. Wenn sie schwamm, wirkte sie weder gehemmt noch sonderbar. Gehänselt wurde sie auch nicht mehr. Wenn sie in ihre Trillerpfeife blies, hörten die Kinder auf herumzurennen, und die Mütter waren froh, dass sie da war. Lee wiederum genoss es, gebraucht zu werden. Sie gab es zwar nie zu, aber ich wusste, dass sie davon träumte, einen Ertrinkenden zu retten. Zu Hause war sie unter etlichen Brüdern das einzige Mädchen; vielleicht hatte das in ihr den Wunsch geweckt, andere zu beschützen. Sie hatte ihren Platz im Leben gefunden. Weder störte es sie, dass sie nach Chlor roch, noch dass sich ihr Haar in der feuchten Luft des Schwimmbads kräuselte. Sie ließ es einfach kurz schneiden. Die Frisur passte zu ihr. An den Wochenenden wollte sie mit mir ins Kino und zu Pizza Hut gehen, doch ich konnte sie nicht jedes Mal für mich zahlen lassen. Das heißt, ich hätte es schon gekonnt, aber ich wusste, dass es nicht richtig war. Außerdem fühlte ich mich ihr dann verpflichtet, erst recht, wenn sie mich mit bettelnden Hundeaugen und gequälter Miene ansah. Es war, als hätte ich einen liebeskranken Freund, der nicht begriffen hatte, dass es aus war, und der nur noch als Notstopfen diente. Mein Vater hatte recht: Ich brauchte einen Job.
In einem Geschäft wollte ich nicht arbeiten. Ich war nicht bereit, widerlichen Menschen mit aufgesetztem Lächeln Dinge zu verkaufen, die sie gar nicht brauchten. Deshalb nahm ich eine Stelle in einem Pflegeheim für Senioren an.
Das Heim war nicht weit von unserem Haus entfernt, nur einen Fußweg von zehn Minuten. Ich bekam die Nachtschicht, was mir ganz recht war, denn sie war besser bezahlt und bedeutete weniger Arbeit als die Tagschicht. Wenn ich kam, lagen die alten Leute schon im Bett oder sollten dort zumindest sein. Nur eine demente alte Frau namens Beattie störte mich nachts. Ihre Augen tränten, ihre Haut hing schlaff herab, ihre Beine waren wie Stöcke. Wenn sie in ihrem weißen Nachthemd auftauchte und wissen wollte, wann die Hochzeit anfing, erschien sie mir wie ein Geist. Sie ging mir auf die Nerven, aber wenn ich dafür sorgte, dass sie ihre Pillen nahm, schlief sie relativ fest.
Eines Abends – Beattie hatte mich zum Glück in Ruhe gelassen – war ringsum alles still. Ich stellte gerade die Frühstückstabletts zusammen. Dabei folgte ich den Anweisungen, die auf einem Zettel an der Tür des Küchenschranks hingen. Die meisten Heiminsassen teilten sich ein Zimmer und bekamen das Frühstück auf einem einzigen Tablett. Mit Trockenpflaumen, Müslischalen, Saftgläsern, Bechern und Tellern war es im Handumdrehen überladen. Ich legte die Brotscheiben zum Toasten auf die Teller – dunkles oder helles oder beides – und schüttete Müsli in die Schalen. Am Morgen musste man dann noch die Milch darübergießen. So hatten meine Kollegen es mir beigebracht. Im Nachhinein finde ich es unhygienisch, dass das Essen über Nacht offen auf den Tabletts stand. Wahrscheinlich sind Brot und Müsli bis zum Morgen auch weich geworden. Aber vielleicht war das gut so, denn die meisten Bewohner hatten dritte Zähne.
Nachdem ich die Frühstückstabletts vorbereitet hatte, begann ich die Medikamente zu verteilen. Die jeweiligen Namen standen auf den Etiketten. Ich sortierte die einzelnen Rationen in kleine Plastikschalen, die ebenfalls mit Namen versehen waren. Für die meisten Heimbewohner gab es einen Schluck Gaviscon und dazu für jeden entweder rote, rosa oder weiße Pillen. Niemand wurde ausgelassen. Ich war damals sechzehn und hatte keine Ahnung, wofür oder wogegen die Medikamente waren. Im Grunde war ich viel zu jung für eine derartige Vertrauensposition. Ich hoffe, heute lässt man Teenager nicht mehr ohne Aufsicht Tabletten verteilen.
Gegen halb
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