Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Smith war kein Hector, doch diese Szene hier wollte ich nachher nicht vor Augen haben, erst recht nicht, als er in meinem Beisein seinen Darm zu entleeren begann. Eilig trat ich den Rückzug an.
»Hol mir einen Eimer, ich muss mich übergeben«, rief er mir nach.
Ich hielt ihm einen Eimer hin. Glücklicherweise musste er sich doch nicht erbrechen, aber der Kotgeruch ließ mich würgen. Ich betete, dass er mich nicht bitten würde, ihn abzuwischen. Dann dachte ich an Keats, der seinen Bruder gepflegt hatte, und ich riss mich zusammen. Ich durfte nicht zimperlich sein, sondern musste an das höhere Ziel unseres Unterfangens denken, statt mich auf lächerliche Weise mit Trivialitäten zu befassen.
Als Smith wieder im Bett lag, fühlte ich mich besser. Er schloss die Augen und schwieg, wofür ich dankbar war. Es waren nur Minuten, nicht mehr als ein paar Minuten, ehe ich erkannte, dass sein Atem zu flach ging. Ich legte den Kopf an seine Brust und lauschte dem Schlagen seines Herzens. Es klopfte langsam und schwach. Als wolle es diesen Zustand kompensieren, fing mein Herz an zu jagen. Ich packte Smith an den Schultern und rüttelte ihn.
»Smith?« O Gott, dachte ich, ich habe ihm zu viel gegeben. »Smith!«
Ich schlug ihm ins Gesicht. Seine Lider öffneten sich einen Spaltbreit, doch ich sah nur das Weiße seiner Augen. Sein Kopf sackte zur Seite. Ich schüttelte ihn heftig, schrie seinen Namen. Ich wusste, irgendetwas stimmte nicht, so hatten wir das nicht geplant. Er durfte noch nicht sterben, schließlich war der sechzehnte Juni das vereinbarte Datum.
Smith schnappte nach Luft, würgte und erbrach seine letzte Mahlzeit über meinen Schoß. »Alice«, wimmerte er wie ein gequältes Tier.
»Bitte nenn mich nicht so – Herrgott noch mal, ich dachte schon, du stirbst.« Ich konnte nicht fassen, wie wütend ich klang.
»Was ist, wenn ich meine Meinung ändere?« Das Sprechen fiel ihm schwer, allein für diesen Satz hatte er eine Ewigkeit gebraucht. Eine Träne lief ihm über die Wange. »Ich glaube, ich schaffe es nicht. Ich will nicht sterben.«
Dreiunddreißig
Ich kann noch immer nicht glauben, wie panisch ich wurde, als ich dachte, ich hätte Smith eine Überdosis gegeben. Sterbende Menschen waren für mich ja nicht neu. Ich war dem Tod bisher zweimal begegnet, und inzwischen machte er mir keine Angst mehr. Dieses Gefühl war erloschen.
Nach dem Tod meiner Mutter erfuhr ich noch ein weiteres Mal, wie es war, wenn jemand starb. Damals war ich sechzehn Jahre alt. Am letzten Freitag im Juni hatte ich sämtliche Prüfungen abgeschlossen und verließ die Schule durch das Tor. Ich wusste, ich würde nie mehr zurückkehren, nicht einmal, um mein Zeugnis abzuholen. Es würde mir ohnehin mit der Post zugeschickt. Im September würde ich mit der Oberstufe beginnen. Doch die neun Wochen bis dahin dehnten sich wie eine leere Fläche. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte.
Die Zeit ist nur für eine Minderheit etwas Schönes: für Menschen, die Geld haben und ausreichend Möglichkeiten, um sich zu zerstreuen. Ich hatte weder das eine noch das andere. Schon nach kurzer Zeit wurde ich rastlos und unzufrieden. Meistens saß ich in meinem Zimmer und las oder drückte mich im Haus herum. Wenn ich fernsehen wollte, kam ich meinem Vater in die Quere. Oder ich ging in die Küche, suchte nach Snacks und verschüttete Obstsaft auf dem Fußboden, woraufhin meine Mutter zu Scheuermittel und Schrubber greifen musste, um alles wieder makellos zu machen. Ich war meinen Eltern im Weg, auch wenn sie es niemals ausgesprochen hätten. Ich störte das prekäre Gleichgewicht im Haus.
Schulferien bedeuteten, dass auch mein Vater zu Hause war. Dann hatte er jede Menge Zeit für die Familie, das war der Nachteil seines Berufs als Lehrer. Auch vor ihm lagen etliche Wochen, die irgendwie herumgebracht werden mussten. Irgendwann war er es leid, im Fernsehen meine geliebten Fortbildungskurse der Open University zu schauen, während ein anderer Sender Autorennen zeigte.
»Warum suchst du dir keinen Job?«, fragte er.
Ich sah ihn mit offenem Mund an. Als Arbeitskraft hatte ich mich noch nie gesehen.
»Es wird dir guttun«, setzte er hinzu. »In deinem Alter war ich schon Lehrling und habe jeden Tag bei einem Tischler gearbeitet. Abends bin ich zur Technikerschule geradelt und habe gelernt. Meine Ausbildung wurde mir nämlich nicht auf einem Silbertablett serviert. Ich musste hart arbeiten, um da hinzukommen, wo ich heute bin.« Er
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