Stirb mit mir: Roman (German Edition)
später saß ich auf einem Holzstuhl mit hoher Lehne an seinem Bett, wie ein Schulmädchen in einer Unterrichtsstunde, und beobachtete ihn. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Die weiße Haut spannte sich auf den Knochen und glänzte am Kinn und auf den Wangen. Ein Arm lag ausgebreitet auf dem Bett, der andere ruhte über der Brust auf einer Wasserflasche. Sein Kopf wurde von zwei Kissen gestützt, auf seiner Stirn lag ein feuchter roter Lappen, der mich an einen Wimpel erinnerte. Seine Augen waren geschlossen.
Ein Bild tauchte vor mir auf, eine Erinnerung, die ich neu beleben wollte. Ich sah den bleichen Körper meiner Mutter, die erstarrende Hand auf ihrem weichen Bauch, das gewellte Käsesandwich auf dem Teller. Ich erinnerte mich an das Weiche meiner fliederfarbenen Strickjacke und daran, wie behutsam ich sie ihr über die Schulter gelegt hatte. Wie ich meine Mutter geküsst und den Kopf an ihre Brust gelegt hatte, den Mund an ihrer Brustwarze, als sei ich noch ein Säugling, und schließlich an ihre kalte Wange. All diese Erinnerungen setzte Smiths Körper frei, der unter dem Einfluss der Droge erschlafft war. Aus zweien wurde einer. Endlich erfuhr ich jene Liebe wieder, war wieder bei meiner Mummy, die allein mir gehörte, so wie es damals gewesen war, als ich sie in ihren letzten Stunden hielt. Die Außenwelt war versunken, ihr Körper noch warm. Sie gehörte weder Mr Wilding noch den Drogen, sondern nur mir. Dank Smith hatte ich jene Liebe wiedergefunden.
Er war wunderschön, wie eine Marmorfigur in einer Krypta. Die roten Zeichnungen erzählten ihre Geschichten, der Geruch des Nagellacks führte mich zurück. Smith war nicht mehr Fleisch, sondern Kunst.
»Ich bin unglaublich müde«, sagte er. Um seine Mattigkeit zu demonstrieren, hob er die Hand und ließ sie wieder fallen. Er wollte nur noch schlafen.
Die Droge hatte eine wunderbare Wirkung gezeigt. Mein Herz tanzte vor Freude, denn ich wusste, dass wir den perfekten Augenblick erschaffen hatten, ein Tableau der Liebe. Wie alle Tableaus, alle Bilder, war er wundervoll anzusehen. Nur seine herumliegenden Kleidungsstücke störten, und auch mein Stuhl stand nicht so gerade, wie es hätte sein sollen. Am liebsten hätte ich aufgeräumt und angefangen zu putzen, doch ich zwang mich, sitzen zu bleiben. Ich wollte diesen Moment nicht verderben, denn hinterher dachte ich sicher, dass ich kostbare Minuten vergeudet hatte, nur weil ich mich mit solchem Kleinkram aufgehalten hatte. Ich musste in diesem Augenblick bleiben.
»Es ist, als wäre ich betrunken«, nuschelte Smith. »Das Zimmer dreht sich.«
Das Fenster stand offen. Draußen fuhr ein Wagen vorüber, eine Frau rief ihrem Kind zu, es solle auf die Straße achten. In meinem Herzen hielt ich an dem Gefühl fest, dass Mummy bei mir war. Ich hielt mich an der Liebe fest.
»Sag mir, wie du wirklich heißt«, bat Smith mich plötzlich.
Mein überschäumendes Herz zuckte, setzte für einen Takt aus, denn diese Bitte kam aus heiterem Himmel. »Keine Details«, erwiderte ich. »So war es abgesprochen.«
An den Wochenenden, an denen er mich besucht hatte, hatte ich sorgsam darauf geachtet, die Post von der Fußmatte einzusammeln, damit er meinen Namen nicht auf den Briefumschlägen erkannte. Auch sonst hatte ich alles darangesetzt, jeden Hinweis auf meinen Namen aus dem Haus zu entfernen.
»Bitte, ich möchte ihn wissen.« Er war erschöpft, seine Stimme leise und schleppend.
»Du weißt doch, dass ich Robin heiße.«
»Ich möchte nicht sterben, ohne deinen richtigen Namen zu kennen.«
Wie konnte ich ihm das versagen? Ich hätte alles für ihn getan. Nach dem, was er mir geschenkt hatte, wäre mir nichts zu viel gewesen. »Ich heiße Alice.«
»Alice«, wiederholte er, »im Wunderland.« Dann lachte er. Es klang wie ein Schnauben, schmerzhaft und gepresst, und ging beim Ausatmen in ein Husten über.
»Kannst du mir zur Toilette helfen?«
Ich stützte ihn, während wir langsam über den Flur zum Bad gingen. Als ich ihn auf die Toilette setzte, hielt er sich an meinen Armen fest. Sein schlaffer, bleicher Körper stieß mich ab. Ich erinnerte mich an den alten Mann in dem Pflegeheim, in dem ich als Teenager gearbeitet hatte. Wenn er morgens auf der Bettkante hockte und seinen Haferbrei aß, hingen seine Hodensäcke tief herab. Das war das Entwürdigende am Alter. Smith hatte diesen Zustand schon in jungen Jahren erreicht, denn auch ihm stand der Tod bevor. Er würde keinen Heldentod sterben,
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