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Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Titel: Stirb mit mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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Unterm Strich sind sie eher kümmerlich. All diese Dinge werden in schwarzen Müllsäcken landen. Vielleicht nimmt jemand einige der Möbel und verkauft oder verschenkt sie. Das meiste wird jedoch auf einer Müllhalde enden. Vergessen. Das hätte auch mein Schicksal sein können, doch jetzt wird mein Tod anderen in Erinnerung bleiben. Durch Alice wird ein Teil von mir bis zu ihrem Tod weiterleben. Jesus sagte: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.«
    Ich habe einen kleinen Koffer gepackt, wie für einen Wochenendurlaub, eine kurze Auszeit, um mich vom Stress zu erholen und die Monotonie meiner Tage zu unterbrechen. Ich habe sorgfältig gepackt. Ein sauberes Hemd. Eine beige Baumwollhose, abgetragen, aber bequem. Neue Unterwäsche. Ein Koffer für eine Reise ohne Wiederkehr. Bei dem Gedanken wurde ich sentimental und nahm ein Foto aus dem Regal. Es war verstaubt, denn ich hatte es seit Monaten nicht mehr in der Hand gehabt. Darauf sind meine lächelnden Eltern in jungen Jahren abgebildet. Es zeigt mir, wie sie waren, wie ihr Leben vor dem Autounfall war. Morgen jährt sich der Todestag meiner Mutter.
    Als sie starb, war ich gerade mal acht Jahre alt. Wenn ich an diesen Tag denke, fällt mir das Album mit den Briefmarken ein, die ich gerade betrachtete. Die neuen Marken hatte ich behutsam mit einer Pinzette in die Fächer unter dem Pergamentpapier gesteckt. Damit war ich beschäftigt, als meine Großmutter den Anruf erhielt. Mein Vater war am anderen Ende der Leitung, denn er hatte nur leichte Verletzungen davongetragen. Ich hielt die Pinzette in der Hand, als ich sah, wie meine Großmutter zu Boden sank, schluchzte und den Hörer an ihr Ohr presste, als warte sie auf eine bessere Nachricht über ihre Tochter, die jedoch nie kam. An dem Abend warf ich die Briefmarkensammlung fort. Mein Vater holte sie später aus dem Müll und hob sie zusammen mit den Fotoalben in dem Schrank auf, der um den Stromzähler herum gebaut worden war.
    An diesen Schrank trat ich nun und öffnete ihn. Eine Staubwolke kam mir entgegen, und innen flitzte eine Spinne davon. Da lag das Album mit meinen Briefmarken, zwischen den Gelben Seiten und einem alten Urlaubsprospekt. Ich nahm es heraus. Es war kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, der Einband aus Karton. Das Deckblatt hatte Eselsohren. Auf die Rückseite hatte ich in Schönschrift meinen Namen geschrieben. Die Briefmarken waren noch einwandfrei. Ich steckte das Album in meinen Koffer zu meinem Laptop und dem USB-Stick, den ich sicher in einem Briefumschlag verwahrt hatte.
    Am Bahnhof Liverpool Street kaufte ich eine Fahrkarte nach Colchester. Einfache Fahrt. Wenig später kam ich an einem Obdachlosen vorüber, der eine Straßenzeitung verkaufte, zu seinen Füßen lag ein räudig aussehender Windhund. Ich reichte dem Mann einen Zehner. Er wollte mir eine Zeitung geben, aber ich lehnte ab. Wozu sollte ich noch über irgendwelche Vorkommnisse in London lesen? Ich warf einen Blick auf die Anschlagtafel mit den wechselnden Städten und Abfahrtzeiten, wartete, bis Colchester erschien. Bahnsteig zwölf, Abfahrt sechzehn Uhr.
    Der Zug war so voll, dass ich lediglich einen Stehplatz auf dem Verbindungsstück zwischen zwei Wagen bekam. Er bewegte sich ruckartig. Gleich dahinter lag die Toilette. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, schlug mir der Gestank von abgestandenem Zigarettenrauch und Urin entgegen. Neben mir stand eine erschöpft wirkende Mutter mit Einkaufstüten und einem kleinen Mädchen, das nicht stehen wollte und sich auf den Boden setzte. Wahrscheinlich war es übermüdet, weil sie es stundenlang durch die Läden geschleift hatte. Es rächte sich, indem es mit der Hand über den verdreckten Boden wischte und Figuren in den Staub malte. Jedes Mal, wenn jemand zur Toilette wollte, musste die Mutter sich entschuldigen und die Kleine mehrfach bitten aufzustehen.
    Nach meiner Schätzung war das Mädchen acht Jahre alt. Ich dachte daran, wie ich in dem Alter gewesen war. Züge hatte ich geliebt. Und Briefmarken von Orten gesammelt, an denen ich nie gewesen war und die ich nie besuchen würde, obwohl ich das zu der Zeit noch nicht wusste. Damals glaubte ich noch, die Welt stünde mir offen. Wie unschuldig ich war. Mir war nicht einmal bewusst, dass ich lebte. Ich ging davon aus, dass meine Augen sich täglich öffnen und meine Lunge sich täglich mit Luft füllen würden. Jetzt würde ich alles für eine Stunde – nur sechzig

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