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Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Titel: Stirb mit mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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Minuten – dieser Gewissheit geben.
    Das Mädchen hatte blondes Haar, das aufschimmerte, wenn die Sonne darauf fiel, und grüne Augen, wie eine Katze. So musste Alice als Kind ausgesehen haben. Auch sie wird einmal unschuldig gewesen sein. Sie war immer noch unschuldig oder zumindest unwissend hinsichtlich der Krankheit, die mich langsam tötet. Vor fünf Monaten saß ich vor einem Computerbildschirm und setzte einen Plan in die Tat um. Dann dachte ich an all die Ideen, die Alice und ich per Computer hin und her gewälzt, die Wörter, mit denen wir gespielt hatten. Es erschien mir realer, als hier eingezwängt in einem Zug zu stehen. Mir war, als wäre ich bereits ein Geist. Das kleine Mädchen musste meinen Blick gespürt haben, denn es sah auf.
    Mir war schwindlig. Am liebsten hätte ich mich neben die Kleine auf den schmutzigen Boden gesetzt und mit den Fingern im Staub gemalt. Stattdessen nahm ich meine Brille ab, rieb mir über den Nasenrücken und schloss die Augen. Als der Zug eine Kurve nahm, schwankte ich und stieß mit der Mutter zusammen. Im Zurückweichen trat ich auf eine ihrer Einkaufstüten, die sie auf den Boden gestellt hatte. »Tut mir leid«, sagte ich, aber sie taxierte mich abfällig, dachte womöglich, ich sei betrunken. Dabei war ich gar nicht betrunken, sondern krank. Tödlich krank.
    Mein Schwindelgefühl verstärkte sich. Unbeholfen ließ ich mich zu Boden sinken. Dass meine Kleidung dabei schmutzig wurde, war mir egal. Das Mädchen musterte mich neugierig. Die Hand seiner Mutter legte sich beschützend auf seinen blonden Schopf. Heutzutage traut man Fremden nicht mehr, erst recht nicht, wenn sie mit Kindern sprechen, doch ich hatte nichts zu verlieren.
    »Hallo«, sagte ich.
    Das Mädchen schaute wieder zu Boden, hatte die Lektion, nicht mit Fremden zu sprechen, gut gelernt. Nichtsdestotrotz langweilte es sich und linste immer wieder zu mir hoch. Mit unsteter Hand griff ich nach meinem Koffer und zog den Reißverschluss auf. Ich spürte, dass die Mutter mich beobachtete, spürte ihre Nervosität, als dächte sie, ich würde gleich eine Bombe hervorholen. Aber ich bin kein Terrorist, sondern wollte lediglich eine Verbindung herstellen. Ich zog das Album mit den Briefmarken heraus und schlug es auf meinem Schoß auf. Die Kleine schielte auf die Seiten.
    »Weißt du, was das ist?«
    Sie zuckte mit den Schultern, demonstrierte Gleichgültigkeit, wie um zu sagen, sie sei doch nicht blöd. »Briefmarken.«
    »Richtig. Sie kommen aus der ganzen Welt. Von Orten, die du dir kaum vorstellen kannst. Sieh mal.« Ich deutete auf eine rosa Briefmarke, auf der eine Alpakaziege abgebildet war. »Die hier ist aus Peru. Weißt du, wo das liegt?«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf.
    »In Südamerika. Weit weg von hier.«
    »Ich war schon mal in Amerika«, entgegnete die Kleine. »In Florida. Da bin ich mit Delfinen geschwommen.« Sie strahlte.
    Ich fragte mich, ob Alice in ihrem Leben jemals mit Delfinen geschwommen war. Ob sie jemals in Amerika war. »Ich würde gern mal nach Südamerika reisen«, sagte ich.
    »Warum machst du es dann nicht?«
    Eigentlich eine ganz einfache Frage, die ich trotzdem nicht beantworten konnte.
    Als der Zug in Chelmsford hielt, sammelte die Mutter die Einkaufstüten ein. Ich reichte dem Mädchen den Briefmarkenband.
    »Hier«, sagte ich. »Der ist für dich.«
    Sie nahm ihn entgegen. Zweifellos würde ihre Mutter ihr deswegen beim Aussteigen Vorwürfe machen. Doch das Kind würde später die Briefmarken betrachten und von Orten träumen, die es eines Tages besuchen würde, und sich vielleicht sogar an mich erinnern.
    Nach Chelmsford stand ich allein im Gang. Die Toilettentür war aufgesprungen und schlug mir gegen den Fuß. Ich stand trotzdem nicht auf, sondern begann, mir Alice als kleines Mädchen vorzustellen. Dann wartete ich darauf, dass der Zug die Endstation erreichte. Das Ende meiner Reise.
    Alice wartete am Bahnsteig auf mich. Es war ein sonniger Juniabend. Sie hatte sich für mich hübsch gemacht, trug ein cremefarbenes Kleid und Riemchensandalen. Ich hatte Angst, ihr Kleid schmutzig zu machen, aber sie rannte auf mich zu, ohne auf meine verschmutzte Kleidung zu achten, und warf die Arme um mich. Die Geste hätte mir eine Stütze sein sollen, ein Grund, nicht zu fallen, stattdessen wurde mir so schwindelig, als stünde ich auf einem hohen Berg und blickte in den Abgrund. Sofern Alice mein Zittern registriert hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.
    Auf der Fahrt zu

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