Stirb mit mir: Roman (German Edition)
waren. Abrupt riss ich die Hand zurück. Alice wirkte verwundert und gekränkt. Wie sollte ich ihr erklären, dass es nur zu ihrem Schutz geschehen war?
Es ist später am Tag, die Sonne geht unter. Der Himmel hat sich orangerot verfärbt. An der Kirche und gegenüber dem Friedhof bilden sich lange Schatten. Ich schaue aus dem Fenster und sehe einen Mann am Haus vorübergehen. Er blickt auf, und ich erkenne, dass es kein Mann, sondern eine Frau ist. Die Lederjacke und das kurze Haar haben mich in die Irre geführt. Anscheinend fühlt sie sich beobachtet, denn sie wendet sich eilig ab und läuft davon.
Ich höre Alice unten hantieren: Wasser, das in einen Teekessel läuft, ein Schalter, der angeknipst wird, ein Glas, das aufgeschraubt wird, und die Druckluft, die mit einem leisen Knall entweicht. Ich sehe ihr Gesicht vor mir, mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Sie summt etwas, ein Geräusch, das tief aus ihrer Kehle kommt. So stelle ich mir Alice gern vor, ebenso wie ich unsere gemeinsame Häuslichkeit mag. Wäre es so für uns gewesen, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten? Wenn ich nicht krank wäre?
Früher, als ich noch Briefmarken sammelte, war ich mir sicher, eines Tages würde ich all die fernen Länder bereisen, aus denen sie stammten. Der kleine Junge von damals steckt noch in mir, hämmert gegen die Wand meiner Brust und ruft, dass es noch nicht zu spät ist, um mir die Welt anzuschauen.
Es ist sehr wohl zu spät, denn wir haben einen Plan.
Nur für Alice nicht.
Warum bin ich nicht sicherer, dass unser Vorhaben das Richtige ist? Vor mir liegt das, was wir geplant haben, so wie wir es uns wünschen, und trotzdem fühlt sich alles falsch an. Das Haus ist zu sauber, das Essen war zu mächtig. Warum fühlt sich nichts richtig an? Sind das Zweifel? Diese kribbelnde Nervosität, die mich unruhig macht? Kann ich meine Meinung noch ändern?
Selbst Jesus hatte Zweifel, als sein Ende nahte. Ich muss mich zusammenreißen. Trotzdem bin ich unsicher. Mein Kopf schmerzt. Ich kann nicht klar denken.
Ich hole eine Zehnpencemünze aus der Hosentasche hervor und sage mir, dass mein Tod in einigen Wochen zwar unvermeidlich ist, ich aber eine Chance von fünfzig Prozent habe, bis dahin zu leben.
Mit Schwung werfe ich die Münze hoch in die Luft. Als ich sie fangen will, zittert meine Hand so sehr, dass das Geldstück auf den Fußboden fällt und unter das Bett rollt. Auf allen vieren sehe ich zu, wie sie kreiselt, und warte darauf, dass sie umkippt und ich sie aufklauben kann.
Ich umklammere die Münze. Dann versuche ich es noch einmal.
Diesmal werfe ich sie nicht ganz so hoch und kann sie fangen, klatsche sie auf meinen Handrücken und bedecke sie mit der freien Hand. Doch da ich zittere, habe ich Angst, dass sie mir entgleitet. Kopf bedeutet, dass ich dem Ganzen ein Ende mache und Alice von meiner Krankheit erzähle. Ich möchte sie keiner Gefahr aussetzen. Bei Zahl mache ich weiter wie bisher.
Ich bete zu Gott, er möge sich einschalten und mir eine Botschaft schicken. Bitte, oh bitte, lass diese Münze mich bei meiner Entscheidung lenken.
Langsam hebe ich die Hand von der Münze, wage es aber nicht, sie richtig anzuschauen, sondern linse nur darauf, bis mir klar wird, dass ich erkennen muss, was Gott oder das Schicksal entschieden hat. Ich werfe einen Blick auf die Münze.
Zahl.
Ich schleudere die Münze zu Boden und fluche, als ich höre, wie sie kreiselt. Die Kehle schnürt sich mir zu, denn nun muss ich mit dem Plan weitermachen. Ich muss sterben und Alice möglicherweise infizieren.
Doch dann fühle ich mich dermaßen mies, dass ich weiß, die Entscheidung ist schon vorher gefallen. Meine Reaktion auf die Zahl war der Beweis. Ich wollte Kopf.
Ich möchte heute nicht sterben.
Ich möchte Alice nicht schaden.
Cate las den letzten Teil noch einmal. Demnach hatte David Jenkins seine Meinung geändert. Trotzdem war er gestorben, und Alice hatte von ihm gegessen. Folglich war es vielleicht doch anders gelaufen, als sie bisher angenommen hatte, und er war gar nicht freiwillig in den Tod gegangen. Oder aber er hatte es sich erneut anders überlegt und beschlossen, wie geplant vorzugehen. Dann fiel ihr etwas ein, ein letztes Puzzlestück, das sie einsetzen konnte. Cate zog ihre Schreibtischschublade auf und holte den handgeschriebenen Brief heraus, den Krishna ihr gegeben hatte.
16. Juni
Krish,
ich weiß, dass der Stick bei Dir in guten Händen ist. Er ist wichtig.
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