Stirb mit mir: Roman (German Edition)
geschwommen, aber vielleicht nur, weil meine Mutter eine stützende Hand unter meinen Körper hielt. Was, wenn ich untergehe?
Lee wartet hinter dem Fußbecken auf mich, steht in ihrem einfachen blauen Badeanzug da und lächelt mir zu. Sie ist entspannt, kennt sich aus, schließlich hat sie jahrelang am Rand eines Schwimmbeckens gestanden und war jederzeit bereit, ins Wasser zu springen und jemanden zu retten. Hinter ihr sausen kreischende Kinder über die Rutsche in das aufspritzende Wasser und werden von ihrem Gewicht nach unten gezogen. Für mich ist all das wie ein Echo aus vergangenen Zeiten.
Ich werde panisch und beginne zu zittern.
»Komm, Alice, lass uns ins Wasser gehen. Hier draußen ist es mir zu kalt.« Lee nimmt meine Hand. Wie kommt es, dass eine so simple Geste mich stabilisieren kann? »Wir gehen ins Planschbecken, da ist es am wärmsten.«
Sie führt mich, lässt mir aber genügend Zeit, um es über die nassen Fliesen zu schaffen. Ich stakse wie ein Flamingo.
Im Planschbecken ist es warm wie in einer Badewanne, und das Wasser ist ebenso flach. Ich bin für beides dankbar und entdecke das Mädchen in dem gepunkteten Badeanzug, das um seine Mutter herum planscht. Die orangefarbenen Schwimmflügel der Kleinen sehen aus wie die Flügel eines exotischen Vogels.
Wir setzen uns ins warme Wasser, das uns nur knapp bis zum Hals reicht. Lee hält meine Hand unter Wasser und scheint auf etwas zu warten. Ich warte auf nichts, aber ich könnte hier ewig sitzen bleiben und schließe die Augen. Das ist der Augenblick, geht es mir durch den Sinn. Daran werde ich mich erinnern, falls man mich einsperrt. An diesen Moment werde ich in meiner Gefängniszelle denken. Ich erinnere mich an eine andere Zeit, an ein anderes Schwimmbecken. Vor meinem inneren Auge planscht ein anderes kleines Mädchen im Wasser. Wie kindlich ich damals war. Da war meine Mutter noch bei mir. Jetzt sitzt Lee neben mir und ist mein Anker, wie sie es von jeher war.
»So, und jetzt gehen wir ins tiefe Becken, Alice. Komm.«
Ich folge ihr voller Vertrauen, auch wenn ich Angst habe, auf den Fliesen auszurutschen. Über Metallstufen gelange ich in kälteres – und tieferes – Wasser. Ich bin froh, dass Lee dicht bei mir ist und meine Taille umfängt, die Stufen führen trotzdem nach unten, in die Tiefe. Ich habe keinen Boden mehr unter den Füßen.
»Keine Angst, Alice. Ich halte dich fest.«
Wie eine Katze, die jemand in einen Fluss geworfen hat, breche ich in Panik aus und taste verzweifelt nach dem Beckenrand. Dann kralle ich mich an Lee, die mich trägt, während ich Wasser trete. »Klammer dich nicht an meinen Hals, Alice. Halte dich an meinen Schultern fest.« Ihre Schultern sind breit und sehnig, und ich spüre ihre Kraft. Lee beginnt zu schwimmen, fort vom Beckenrand, und nimmt mich mit. Mit ruhigen, sicheren Stößen zerteilt sie das Wasser. Ich klebe an ihr, recke das Kinn in die Höhe und schmecke Chlor auf den Lippen.
Lee schwimmt wie ein Delfin.
Ich halte mich an ihren Schultern fest, und da ich weiß, wie stark sie ist, lasse ich mich bis zur Beckenmitte tragen, dorthin, wo das Wasser am tiefsten ist. Aber ich werde nicht untergehen. Ich lerne schwimmen.
Ich lerne, wie es ist, sich sicher zu fühlen.
Als wir wieder zu Hause sind, kocht Lee uns etwas zu Abend. Später massiert sie mir die Füße. Lee findet es schön, normale Dinge zu tun. Sie isst beim Fernsehen gern Popcorn aus einem eimergroßen Gefäß oder bestellt sich ein Vindaloo vom Inder, wenngleich sie davon Blähungen bekommt. Sie stellt auch gern Fragen. Und immerzu will sie mich heil machen, als sei ich ein Boot, das leckt, will sich kümmern und es wieder hinbekommen. Die Normalität sind die Flicken, die sie verwendet, ein ums andere Mal. Mir kommt sie vor wie ein Kind mit einem Pillenfläschchen, ohne zu begreifen, dass der Verschluss eine Kindersicherung hat.
Darüber hinaus ist sie rastlos. Selbst nach dem sexuellen Akt, wenn ich nur noch schlafen will, hält sie nicht still, sondern stützt sich auf den Ellbogen und streichelt mich, was mich auf die Palme bringt. Dabei löchert sie mich mit ihren Fragen: Wie geht es deinen Eltern? Welche guten Filme hast du in letzter Zeit gesehen? Gefällt dir dein Beruf noch? Möchtest du einen Toast mit Erdnussbutter oder lieber Marmite?
»Was interessiert dich das?«, fahre ich sie an, denn ihre Litanei strapaziert mich ebenso wie meine Versuche, mich schlafend zu stellen. »Musst du das alles für deine Reise
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