Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Ausnahme bin, eine statistische Unwahrscheinlichkeit, war mein Leben vorhersehbar. Es war so, wie ich es mir eingerichtet hatte. Vielleicht bestand es überwiegend aus Gewohnheiten, andere hätten es womöglich gar als langweilig bezeichnet, aber feste Strukturen haben auch etwas Tröstliches. Doch dann rissen die Worte des Arztes mein Leben entzwei. Mir wurde klar, wie dumm ich gewesen war, dass ich in einer Phantasiewelt gelebt hatte, die nur auf Treibsand aus Zahlen basierte. Ich war auserkoren worden zu sterben, ohne zu wissen, warum. Ebenso wie Jesus fühlte ich mich verlassen.
Deshalb werde ich dir meine Geschichte erzählen, Krish, denn ich möchte sicher sein, dass wenigstens einer weiß, was Sache ist.
Spiegel sind das Schlimmste. Mein Blick weiß nicht, worauf er sich konzentrieren soll, auf mein Spiegelbild oder das Glas. Diese Unsicherheit wird sich verstärken, denn mein Gehirn sendet meiner Netzhaut unklare Informationen.
Ich bin gezeichnet, obwohl ich den Unterschied zu den anderen nicht gespürt habe, nichts davon wusste. Ich frage mich, wie viele Menschen noch zu den wenigen aus mehreren Millionen gehören, ohne zu wissen, dass es so ist. Dass sie zu den lebenden Toten gehören.
In meinem Fall dreht es sich um das Gehirn. Das Gift, das es zerstört, sitzt tief im Gewebe. Wenn du das hier liest, empfindest du sicherlich Mitleid mit mir. Vielleicht solltest du dich jetzt fragen, woher du wissen kannst, ob in deinem Herz oder deiner Lunge nicht auch eine Zeitbombe tickt. Nehmen wir mal an, es wäre so. Wer soll dann deine Austaste drücken? Was wäre dir am liebsten? Soll es das Schicksal sein? Gott? Oder du selbst?
Da es um mein Gehirn geht, werde ich selbst auf diese Taste drücken.
Bei jedem Blick in den Spiegel frage ich mich, ob es das war? Ist das, was ich täglich vor mir sehe, die Summe meines Lebens? Dieser Schreibtisch, dieser Computer, diese Kleidung? Bin ich das? Ist das alles, was ich bin? Solche Fragen habe ich mir vorher nie gestellt, denn solche Grübeleien lagen mir nicht. Zahlen, Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten, all das betraf nur andere und deren Leben. Wenn ich den Taschenrechner benutzt und die Prozentzahlen ausgerechnet habe, hatte ich die Kontrolle.
Diesmal bin ich die statistische Ausnahme, und etwas anderes hat die Kontrolle. Es sitzt in meinem Gehirn und sendet Botschaften, trägt meinen Zellen auf, sich wie eine erobernde Streitmacht gegen mich zu erheben, Kolonien zu gründen und meine Verbündeten zu meinen Feinden zu machen. Aus normalen Proteinen werden tödliche Moleküle. Das Einzige, was ich noch habe, ist Zeit. Das Einzige, was ich tun kann, ist, auf das Versagen meines Körpers zu warten, darauf, dass mein Gehirn nur noch vergisst. So etwas wählt man nicht für sich, das ist kein Leben. Niemand sucht sich die Rolle des Märtyrers aus.
Cate unterbrach ihre Lektüre. Demnach war David Jenkins also doch krank gewesen, immerhin schrieb er vom Versagen seines Körpers und Gehirns, von einer tödlichen Krankheit, die ihn zum Mitglied einer Minderheit machte. Wie seltsam, dass Alice bei allen Nachfragen standhaft behauptet hatte, ihr Freund sei gesund gewesen. Offenbar hatte weder Alice noch die Polizei von dieser tödlichen Krankheit gewusst. Aber um welche Krankheit hatte es sich dabei gehandelt?
Warum hatte Jenkins anderen nichts davon erzählt? Dann hätte man seinen Entschluss, zu sterben, viel besser verstanden und Alice hätte weniger schuldig gewirkt. Offenbar hatte er einen Grund gehabt, ihr seinen Zustand zu verschweigen. Nur, hätte Alice dann nicht merken müssen, dass er litt? Hätte sie nicht nachfragen müssen, warum er sterben wollte? Auf diese Fragen musste Cate Antworten finden, dabei jedoch extrem vorsichtig sein. Schließlich sollte Alice nicht erfahren, dass sie im Besitz des Tagebuchs war. Das würde Cates Geheimnis bleiben.
Ihr war klar, dass sie den USB -Stick an die Polizei weiterreichen musste, doch das würde sie erst tun, nachdem sie am nächsten Tag mit Alice gesprochen hatte.
Fünfundzwanzig
1981 Der Koffer war aus hellblauem Vinyl, mit einem Bild von Pu dem Bär auf der Vorderseite. Ein weicher Karton mit einem dicken Griff. Es war ein kleiner Koffer, aber Mummy versuchte, alles darin unterzubringen. Selbst Alice konnte sehen, dass nichts mehr hineinpasste, doch ihre Mutter stopfte noch einen Pulli hinein, noch ein Buch. Alice sagte: »Mummy«, aber ihre Mutter gab ihr keine Antwort, sondern holte immer mehr Sachen aus
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