Stirb mit mir: Roman (German Edition)
schwarze Tasche, in der die Sachen waren, die nicht mehr in den Koffer gepasst hatten. Die anderen Leute trugen grüne Uniformen und kamen in einem Rettungswagen mit heulender Sirene. Die Frau setzte sich auf dem Fahrersitz zurecht.
Einer der Männer kam aus dem Haus gerannt und klopfte an das Seitenfenster. »Hier, nehmen Sie die mit«, sagte er zu der Frau am Steuer. »Die arme Kleine hat ja nur ein Nachthemd an.« Er reichte ihr die fliederfarbene Strickjacke.
Die Frau ließ den Wagenmotor an.
Alice wurde panisch, brach in Tränen aus und rief: »Wir müssen auf meine Mummy warten, meine Mummy!«
Die Frau drehte sich zu ihr um und tätschelte ihr das Knie. Alice konnte sich nicht bewegen, saß festgezurrt in ihrem Gurt. Dann ging die Haustür auf, und eine Liege aus Metall wurde herausgetragen, obenauf lag ein Lakenbündel. Nein, dort lag ein Geist. Dann bemerkte Alice einen nackten Fuß und den hübschen rosa Nagellack an den schneeweißen Zehen.
Die Frau drückte aufs Gas, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Alice rief noch immer nach ihrer Mutter, doch die konnte ihr Mädchen nicht hören, denn sie lag unter dem Laken.
Während der Wagen fuhr, rief Alice weiter nach ihrer Mutter, aber niemand antwortete ihr.
Ehe sie entdeckt wurden, hatte Alice nahezu vier Stunden an der Seite ihrer Mutter gelegen.
Der Hausbesitzer war vorbeigekommen, um die Miete zu kassieren, und hatte sie gefunden. Auf dem Weg zu ihnen hatte er Mutter und Tochter entdeckt, die eng aneinander geschmiegt auf dem Fußboden der Nachbarwohnung lagen. Matilde Mariani war nackt, die Kleine hatte sich wie ein Äffchen an sie geklammert. Später sagte er aus, das Kind von der Toten wegzulocken, sei das Schwierigste gewesen, was er in seinem Leben getan hatte.
Bei der Obduktion kam heraus, dass Matilde Mariani eine hohe Dosis Drogen zu sich genommen hatte. Ihr Tod wurde als Unfall bezeichnet. Mr Wilding war wie vom Erdboden verschluckt.
Die Sozialarbeiterin, die Alice schließlich in ihr neues Zuhause brachte, kam zu dem Schluss, dass die Kleine den Tod ihrer Mutter nicht akzeptiere, denn nach dem ersten Gefühlsausbruch im Wagen habe sie sich »auffallend unbeteiligt« gezeigt. Sie war der Ansicht, dass das Kind professionelle Hilfe brauche, um dieses Erlebnis zu bewältigen, ebenso eine seinem Alter angemessene Trauerarbeit.
Die Hilfe kam nicht. Jedenfalls nicht für mich.
Sechsundzwanzig
Ich bin zu Hause. Freigelassen. Wenn auch nur bedingt. Wörter, alles Wörter. Hauptsache, ich bin frei. Als ich die Haustür aufschließe, taucht der Kater meiner Nachbarn auf und sieht mich mit großen Augen an, als wolle er wissen, wo ich war. Obwohl es kalt ist, bücke ich mich und streiche über sein schwarzes Fell. Er duckt sich weg, doch dann knete ich sanft seine spitze Wirbelsäule, und er schnurrt. Als ich zu frösteln beginne, gehe ich ins Haus, denn ich habe einiges zu tun.
Wie Schneewittchen setze ich mich auf jeden Stuhl, springe von einem zum anderen, finde keine Ruhe. Ich öffne die Schränke, berühre die Dosen, die knisternden Nudeltüten. Nachdem ich zehn Tage vom Tablett gegessen habe, ist all das eine Wohltat. Ich habe so viel zu erledigen, weiß aber nicht, wo ich anfangen soll. Ich trete an meine Bücherregale, fahre mit dem Finger über die Leinenbuchrücken und die feinen Ledereinbände. Dann fege ich die Scherben auf dem Fußboden zusammen und werfe sie zusammen mit den vertrockneten Blumen in den Mülleimer. Wie ein Kind in einem Laden voller Süßigkeiten laufe ich von Zimmer zu Zimmer. Mein Bett! Ich hatte ganz vergessen, wie weich die Matratze ist. Dann öffne ich die Schublade mit meinen kostbarsten Besitztümern. Meine fliederfarbene Strickjacke, die beinah ebenso alt ist wie ich. Sie liegt noch immer da und fühlt sich noch immer weich an. Was wir in kurzer Zeit doch alles vergessen können. Da ist mein Badezimmer, es gehört nur mir, mir allein. Niemand wird hereinkommen, um nachzusehen, ob ich mir die Pulsadern aufgeschnitten habe. Ich muss mich nicht durch einen Aufenthaltsraum quälen, in dem ruhiggestellte Patienten so tun, als spielten sie Scrabble, muss keine Mahlzeiten mehr ohne frisches Gemüse essen.
Ich mache mir einen Toast mit Butter und Gelee. Noch nie hat mir etwas so gut geschmeckt. Ich bin so froh, wieder zu Hause zu sein. Dann klingelt jemand an der Tür.
»Alice, ich will wissen, was hier eigentlich los ist.«
Die Tür ist kaum offen, da stößt mein Vater mich schon zur Seite und tritt in
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