Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Es muss doch einen Grund gegeben haben, weshalb er nicht mehr leben wollte.«
»Danach habe ich ihn nie gefragt.«
»Obwohl die meisten Menschen ihm diese Frage gestellt hätten.«
»Sicherlich. Bei niedrigeren Formen der Liebe sucht der Mensch immer nach Gründen.«
Cates Stift verharrt. »Ihn nicht zu fragen, war für Sie demnach Ausdruck einer höheren Form von Liebe?« Ich nicke. »Hat diese Form den Verzehr seines Fleisches eingeschlossen?«
Auf diese Frage habe ich gewartet. »Nein, das hat mich abgestoßen. Es war auch nicht mein Wunsch, sondern seiner. Wenn jemand leidet und sterben will, kann sich sein Verhalten ändern. Ebenso wie wenn jemand liebt. Wir haben beide ein Opfer gebracht. Er wollte, dass ich ihm diese Bitte erfülle.«
Das ist ihr eindeutig zu hoch. Ihr Mund verzieht sich angewidert, und als sie weiterspricht, bemüht sie sich um einen neutralen Ton. »Warum hatte er diesen Wunsch?«
»Den musste er nicht begründen. Meine Hingabe war absolut. Ich war seine Schülerin und bereit, alles zu tun, was er verlangte.«
Wahrscheinlich kann sie sich von der Vorstellung des Kannibalismus nicht lösen, so weit wächst sie nicht über sich hinaus. Und diese Frau soll ein Gutachten über mich schreiben.
»Es war ein sonderbarer Akt, Alice. Wahrscheinlich würden andere ihn sogar wahnhaft nennen.«
»Oder sie würden ihn als Akt des Glaubens bezeichnen.« Ich falte die Hände auf dem Tisch und beuge mich vor. Ich muss Cate Austin auf eine höhere Stufe bringen, muss sie erleuchten, sonst begreift sie es nie. Um das zu erreichen, lege ich Autorität in meine Stimme. »Eins der Gedichte von Keats erzählt die Geschichte einer Frau namens Isabella. Sie liebt einen Mann, den ihre Brüder ihrer unwürdig erachten. Als sie erkennen, dass ihre Schwester nicht von ihm lassen will, führen sie den Mann in den Wald, ermorden und verscharren ihn. Seine Liebe ist allerdings so stark, dass er Isabella als Geist erscheint und ihr verrät, wo er begraben liegt. Sie geht in den Wald und gräbt ihren toten Liebsten aus. Da sie es nicht erträgt, ohne ihn zu sein, trennt sie seinen Kopf ab, legt ihn in einen Blumentopf und pflanzt darin Basilikum. Die Pflanze gedeiht. Isabella trennt sich nie von diesem Topf, den sie immerzu in den Armen trägt. Es ist eine Geschichte, die extremes Verhalten zeigt. Manche würden es als Wahnsinn bezeichnen, aber in Wahrheit geht es um eine große Liebe.«
Cate sieht mich an. Wir sind Schülerin und Lehrerin. Nur hat sie leider nichts begriffen.
»Das Problem ist«, beginnt sie schließlich, »dass es sich dabei um eine Geschichte handelt. Doch das, was mit David geschehen ist, hat sich niemand ausgedacht, es ist real. Unser Gespräch ist auch keine akademische Lehrstunde, sondern gleichermaßen etwas Reales. Es ist die Realität, in der man, anders als in der Literatur, nicht vom Penis seines Liebsten isst, nicht einmal im Namen der Liebe.«
Neunundzwanzig
»Du bringst Amelia ein bisschen spät zurück. Ich hoffe, sie hat schon zu Abend gegessen.«
»Ja, Fischstäbchen und Pommes.«
Dann brauche ich wenigstens nicht mehr zu kochen, dachte Cate. Sie trug den Rest ihres Abendbrots – ein Käsesandwich – zur Spüle. In ihrem Rücken fummelte Tim an seinem Handy herum und tippte eine SMS .
»Sally möchte, dass ich mit dir über Beths Taufe spreche.«
Cate drehte sich um und lächelte spöttisch. »Bestimmt möchte sie nicht, dass ich Patin werde, oder? Mein Segen käme nicht von Herzen.«
»Sehr witzig, Cate. Nein, wir halten es für besser, wenn du nicht dabei bist.«
Cate dachte an Dornröschen, an die Fee, die nicht eingeladen war und den Säugling verfluchte. Tim war noch immer mit seinem Handy zugange.
»Die Taufe bedeutet Sally sehr viel – uns beiden. Deshalb möchten wir, dass Amelia an dem Tag hübsch aussieht und statt der üblichen Jeans zur Abwechslung mal ein Kleid trägt. Allerdings fragt Sally sich, ob das Kind so was überhaupt besitzt.«
»Wenn es dir nicht passt, wie ich Amelia anziehe, schlage ich vor, dass du ihr ein Kleid kaufst.«
»Bitte, Cate, stell dich nicht an. Ich finde, es ist ein sehr einfacher Wunsch, und du weißt auch, welche Art von Kleid wir meinen.«
»Woher denn? Ich war ja noch nie bei einer Taufe. Deine erste Tochter wurde nicht getauft. Wenn ich mich recht erinnere, hast du das damals als Heuchelei bezeichnet.«
»Mag sein, aber Sally ist es nun einmal wichtig.«
Tim schnappte sich Amelias Jonglierbälle vom Küchentresen
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