Stirb schön
Beifahrerseite, griff geistesgegenwärtig nach einem Taschentuch und holte vorsichtig den Laptop heraus.
Dann erkundigte er sich, getrieben von der Sorge um Emma-Jane, über Funk nach den Krankenwagen und hörte auch schon die Sirenen.
Aber es gab noch etwas, das ihm keine Ruhe ließ. Roy Grace würde gar nicht begeistert sein, wenn er von diesem Unfall erfuhr.
63
UM HALB ZWÖLF PARKTE ROY GRACE seinen Alfa Romeo auf dem Bürgersteig vor dem dunklen Schaufenster eines Händlers, der sich auf Retromöbel des 20. Jahrhunderts spezialisiert hatte.
Er stieg aus, schloss ab und blieb im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen vor dem schmiedeeisernen Tor des ehemaligen Lagerhauses stehen, in dem Cleo wohnte. Einen Moment lang betrachtete er die Klingelschilder und überließ sich seinen widerstreitenden Gefühlen. Er war wütend, aber auch nervös, weil er nicht wusste, wie sie ihm die Sache erklären würde. Zudem auch schlicht und einfach traurig.
Zum ersten Mal, seit Sandy verschwunden war, empfand er wirklich etwas für eine Frau. In den wenigen Augenblicken, in denen er nicht mit dem Mordfall Janie Stretton beschäftigt gewesen war, hatte er tatsächlich an einen neuen Anfang geglaubt. Mit Cleo Morey.
Dann kam die SMS.
Ihr Verlobter.
Was sollte das wohl heißen? Wer war dieser Mann? Ein schlappes Bürschchen aus vornehmen Kreisen, das ihren Eltern gefiel? Komplett mit Porsche und Landsitz?
Wie hatte sie ihm verschweigen können, dass sie verlobt war? Und warum wollte sie sich ausgerechnet jetzt mit ihm treffen? Um sich zu entschuldigen und ihm zu erzählen, dass das Kuscheln im Taxi nur ein beschwipster Fehltritt gewesen war und sie sich nun wie vernünftige Erwachsene verhalten müssten, weil sie beruflich miteinander zu tun hatten?
Und warum war er überhaupt hergekommen? Eigentlich sollte er in der Soko-Zentrale sitzen oder, besser noch, im Bett liegen, um ausgeruht zur Morgenbesprechung und den weiteren Ermittlungen anzutanzen.
Im Geiste ging er nochmal das Gespräch mit Tom Bryce durch. In den vergangenen Jahren hatte Grace mehrere Psychologiekurse absolviert, sie aber nie sonderlich hilfreich gefunden. Sie mochten vielleicht nützlich sein, wenn man zwischen drei Verdächtigen auswählen musste, doch er konnte überhaupt nicht beurteilen, ob die Trauer und Sorge von Bryce echt oder gespielt waren.
Einmal hatte der Mann jedenfalls eindeutig gelogen.
Haben Sie in den vergangenen Monaten eine Veränderung im Verhalten Ihrer Frau bemerkt?
Nein, nicht dass ich wüsste.
Was steckte dahinter? Bryce hatte etwas zu verbergen, so viel war sicher. Glaubte er, seine Frau habe eine Affäre? Oder ihn verlassen wollen? Und trotz seines Mitgefühls war es dieses Zögern, diese Lüge, die ihn davon abhielten, eine umfassende Suche nach Kellie Bryce zu starten. Am Morgen würde er Assistant Chief Constable Alison Vosper vorschlagen, Cassian Pewe mit der Untersuchung ihres Verschwindens zu beauftragen.
Mit etwas Glück würde der aalglatte kleine Scheißer gleich mit seiner ersten Ermittlung ins Klo greifen.
Grace stand vor der Sprechanlage und spürte Schmetterlinge in seinem Bauch. Reiß dich zusammen, Mann! Hängst hier rum wie ein jämmerlicher Teenager! Und das um halb zwölf am Sonntagabend.
Plötzlich war er müde. Ausgelaugt. Wut flackerte in ihm auf – Wut auf Cleo und seine eigene Schwäche, und er war versucht, ins Auto zu steigen und nach Hause zu fahren. Er tastete schon nach dem Schlüssel, als er ihre verzerrte Stimme aus der Sprechanlage vernahm. »Hi!«
Plötzlich durchflutete ihn neue Energie. »Bella, habe Sie uno Pizza bestellt?«, fragte er mit grauenhaftem italienischem Akzent.
Sie lachte. »In den Hof und dann rechts. Nummer sechs, ganz hinten links. Ich hoffe, Sie haben die Extraportion Anchovis nicht vergessen.«
Das Schloss sprang mit einem scharfen Klicken auf. Grace drückte gegen das schwere Tor, wühlte nach einem Kaugummi und steckte ihn in den Mund, während er über das makellos gepflegte Kopfsteinpflaster ging, das von kugelförmigen Lampen erhellt wurde. Als er die Tür erreichte, packte er den Kaugummi wieder in die Folie und steckte das Klümpchen ein.
Die Tür öffnete sich, bevor er klingeln konnte. Cleo empfing ihn barfuß, in engen Jeans und weitem blauem Sweatshirt. Sie hatte die Haare lässig hochgesteckt, sah blass aus, trug praktisch kein Make-up und war doch schöner denn je.
Sie begrüßte ihn mit schüchternem Lächeln und wirkte schuldbewusst wie ein
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