Stoerfall in Reaktor 1
selben Moment schiebt der Wirt eine neue CD in den Player und dreht die Lautstärke hoch. Offensichtlich hat er dem Didgeridoo-Spieler vor seiner Tür den Krieg erklärt. Lukas erkennt den Song sofort: Dirty old town von den Pogues. Als er noch bei Hannah in der Band war, haben sie sich mal an einer eigenen Version versucht, mehr so Bass-’n’-Drum-mäßig, immer voll auf die Eins, und mit einem deutschen Text: Schmutziges Kaff . »Ich traf sie oft, wo früher Frieden war, träumte einen Traum vom großen Fluss, ich küsste sie unterm Kühlturm da, schmutziges Kaff, schmutziges Kaff …« An die anderen Zeilen kann er sich nicht mehr erinnern, aber der Rest der Band wollte den Song sowieso nicht spielen, weil er ihnen zu sehr nach Rio Reiser klang, wie sie behauptet haben. Was Quatsch war. Nichts gegen Hannahs Texte, aber auf Deutsch irgendeinen Songtext zu schreiben, war nie so wirklich ihr Ding …
»Hallo?«, fragt Gunnar und wedelt mit der Hand vor Lukas’ Gesicht hin und her, wodurch der aus seiner Erinnerung gerissen wird. »Hast du meine Frage gehört?« Er muss fast brüllen, um die kaputte Stimme von Shane McGowan zu übertönen. »Ich dachte, du hättest was für mich und deshalb …«
»Und wenn?«, brüllt Lukas gegen die Musik an. »Würde das was bringen? Ich meine, es scheint ja nicht gerade so, als ob Sie da wirklich eine Möglichkeit hätten, bei Ihrer Zeitung irgendwas zu schreiben, was Ihrem Chefredakteur nicht passt, oder sehe ich das falsch?«
Gunnar beugt sich weit über den Tisch, um nicht ganz so schreien zu müssen. Lukas dreht unwillkürlich den Kopf zur Seite, als ihm die Bierfahne entgegenschlägt.
»Nicht für die Zeitung hier, das macht sowieso keinen Sinn. Aber nachdem sie mir meinen Artikel gekippt haben, bin ich doch neugierig geworden, was da eigentlich läuft. Ich habe vorhin kurz mit einem Freund telefoniert, der bei einer überregionalen Zeitung in Berlin arbeitet, die könnten sich für so was interessieren. Die bringen genau solche Sachen, an die sich sonst keiner rantraut. Und sicher ist, wenn die das machen, dann zieht das Kreise. Dann geht das auch nicht unter. Dann hast du auch ganz schnell die Fernsehsender mit im Boot – Topmeldung in den Nachrichten! Aber bevor ich da bei meinem Freund noch mal nachhake, müsstest du mir schon ein paar Fakten liefern, worum es überhaupt geht. Ich muss einschätzen können, ob das wirklich genug Material ist, um was draus zu machen, verstehst du?«
»Und wenn ich vielleicht an eine Liste mit allen Störfällen kommen könnte, die es in letzter Zeit gegeben hat? Wäre das so ungefähr das, was Sie sich vorstellen?«
Gunnar winkt enttäuscht ab und lehnt sich zurück.
»Alles bekannt. Philippsburg, Harrisburg, Biblis, Krümmel, Forsmark – alles alte Hüte, findest du alles im Netz, damit locken wir keinen mehr hinterm Ofen vor. Erschreckend, aber so ist es.«
»Nicht Philipsburg oder Harrisburg, sondern Wendburg! Mindestens sieben Störfälle, allein in diesem Jahr. Und ein paar ganz schöne Infos, wer darüber informiert war, aber nichts unternommen hat. Auch noch ein paar Kostenvoranschläge für irgendwelche Reparaturen, bei denen sie mit Billigmaterialien rumgetrickst haben, um Kosten zu sparen. Und vielleicht auch was, was die vielen Leukämiefälle in Wendburg erklären würde, nämlich dass es da zwar einen Filter für den Dampf aus dem Druckwasserbehälter gibt, der aber nur eingeschaltet wird, wenn eine Überprüfung ansteht. Und vor jeder Überprüfung wird das AKW benachrichtigt, damit sie Bescheid wissen …« Plötzlich ist das Lied zu Ende und Lukas’ letzter Satz bleibt viel zu laut im Raum hängen.
Der Wirt blickt neugierig zu ihnen herüber.
Gunnar starrt Lukas mit offenem Mund an. Als er nach seinem Glas greift und feststellt, dass es leer ist, gibt er dem Wirt ein Zeichen.
»Und du sagst, du hast das ganze Material? Du kannst das alles belegen?«, fragt er leise. In seiner Stimme klingt deutlich mit, dass er Lukas noch nicht so recht glaubt.
»Sagen wir mal so«, antwortet Lukas vorsichtig, »ich könnte das Material besorgen. Ich müsste vielleicht ein paar Zusammenhänge erklären, damit Sie verstehen, worum es geht, aber ich glaube, das Material reicht, um damit was anzufangen. Ich würde nur gerne wissen, ob da an der Sache mit ihrem Freund und dieser anderen Zeitung wirklich was dran ist. Sonst lassen wir das Ganze lieber. Auf so eine Nummer wie von diesem Michael Meyer hab ich echt keine Lust.
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