Stolen Mortality
Zimmer zu. „Das Wasser bleibt nur knappe drei Minuten heiß.“
Wenn es mal nur das wäre. Als sie den klammen Duschvorhang zurückschob, trat eine Horde Silberfischchen die Flucht an. Dieses Bad zeigte äußerst eindrucksvoll, dass hier zwei junge Männer lebten, die ihre Zeit lieber mit anderen Dingen verbrachten, statt mit Putzen. Allerdings war Laine nicht pingelig, daher amüsierte sie sich über das Chaos und genoss den Umstand, dass es zumindest nicht nach Reinigungsmitteln roch.
Das Wasser auf der Haut tat ihr wohl. Es erinnerte sie an den Regen am Abend zuvor und sie schloss für einen Moment die Augen. Ein wüstes Fluchen im Nebenzimmer riss sie aus ihrer Entspannung.
„Jetzt reicht es aber langsam, hat man nie seine Ruhe“, hörte sie Jamian lamentieren. Er klang aufgeregt. Laine spülte sich die Haare aus und drehte das Wasser ab. Sie vernahm das Dröhnen eines Motorrads. Ohne zu wissen warum, ahnte sie Gefahr.
Schnell trocknete sie sich ab, schlüpfte in frische Kleidung und rieb sich das tropfende Wasser aus den Haaren. Im Flur stieß sie fast mit Jamian zusammen.
„Tu mir einen Gefallen“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Bleib in meinem Zimmer, was immer auch passiert.“
„Warum? Wer kommt da?“
In Jamians Gesicht stand eindeutig geschrieben, dass es kein angenehmer Besuch war. „Ärger.“ Ihre Besorgnis musste ihm aufgefallen sein, denn er lächelte. „Keine Sorge, Laine. Es ist nur meine persönliche Stalkerin. Nichts Dramatisches.“ Er touchierte sachte ihre Wange und lief die Treppen hinunter, wobei er mehrere Stufen auf einmal nahm.
Beunruhigt zog sie sich in sein Zimmer zurück und sah zur Ablenkung das Bücherregal durch. Viel war nicht zu finden. Nichts, was Laine nicht schon kannte. Belesen war der junge Wächter offenbar nicht. Nur einige Thriller und die üblichen Klassiker wie „Der Herr der Ringe“ und „Moby Dick“ schmiegten sich zwischen mehrere Kochbücher, die Laine erheiterten, sowie Bildbände ferner Länder. Sie klaubte sich einen aus dem Regal und setzte sich aufs Bett, wo sie es mittig aufschlug. Der australische Ayers Rock leuchtete ihr im Sonnenuntergang kupfern vor azurblauem Himmel auf dem Hochglanzpapier entgegen. Sie hatte ihn gesehen, diesen gigantischen Sandsteinberg, den die einheimischen Aborigines Uluru nannten. Es war nicht so lange her, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er sonderlich beeindruckend gewesen wäre. So beeindruckend, dass man sich sogar Bücher kaufte, nur um ihn anzusehen.
Für einen Moment fühlte sich Laine von Melancholie im Nacken gepackt. Sie hatte so vieles gesehen, und etliches davon kaum wahrgenommen. Zu selbstverständlich war das Reisen in all den Jahren geworden. Frei zu sein, war Gewohnheit. Dorthin zu gehen, wo sie gerade sein wollte, nur um Oberflächlichkeit zu betrachten, war selbstverständlich. Aber über nichts davon hatte sie mehr staunen können, nichts mehr aus tiefstem Herzen bewundert; abgesehen von den Meeren der Erde. Sie griff an ihre Kette, wog die Muschel in der Hand.
Wie trivial sie doch die letzten Jahre verbracht hatte.
Das einsetzende Gespräch vor dem Haus unterbrach ihre Gedanken. Ungewollt lauschte sie.
„Sin, es reicht“, hörte sie Jamian mit verhaltener, aber deshalb nicht minder wutschäumender Stimme sprechen. „Kannst du mich bitte jetzt in Ruhe lassen?“
„Jamie, benimm dich ein einziges Mal wie ein Erwachsener“, antwortete die helle Stimme einer Frau. Sie klang nicht weniger aufgebracht, verbarg es nur unter einem kühlen Ton. „Ich gebe zu, dass ich Fehler gemacht habe, in unserer Beziehung wie auch jetzt. Aber …“
Das interessier t e Laine nun sehr, war jedoch nicht für ihre Ohren bestimmt. Jamians leise Stimme, mit der er widersprach, machte ihr bewusst, dass er auf Zuhörer lieber verzichtet hätte. Rasch griff sie nach seinem MP3-Player, der neben dem Bett lag. Laut, aber gerade noch angenehm, klang schwermütig anmutender Rock in ihren Ohren. Der Sänger sang von schönen Lügen, Verleugnung und naiven Spielen.
Laine fühlte sich ertappt und zupfte sich schnell die Kopfhörer aus den Ohren. Viel zu viel Wahrheit, verpackt in jener Art von Musik, die sie ohnehin nervös machte.
Wieder wurde sie Zeuge des Gesprächs.
„Jamian, ich rieche hier was!“ Den Geräuschen nach befanden sie sich nicht mehr vor dem Haus, sondern unten im Flur. „Du stinkst nach Vampir. Und nach … Sex! Oh Jamie, sag, dass das nicht wahr ist! Du treibst es mit
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