Stolz und Verfuehrung
»In diesem Fall wünsche ich Ihnen einen angenehmen und produktiven Aufenthalt. Mary«, sie deutete auf das Mädchen, das hereingeeilt war und höflich knickste, »wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Falls Sie irgendetwas benötigen, wenden Sie sich bitte an die Angestellten.«
»Danke. Das werde ich tun.« Hadley nickte höflich, nahm seine Tasche und das Paket, in dem Em jetzt die Umrisse einer gefalteten Staffelei erkannte, und folgte Mary, die mit geröteten Wangen zur Treppe voranging.
Auf dem Weg durch die Gaststube bemerkte Hadley die Blicke einiger Frauen, die ihn unverhohlen musterten. »Ladys«, grüßte er mit einem Lächeln und senkte freundlich den Kopf.
Der mit leiser, tiefer Stimme gebotene Gruß wurde von einigen mit einem leichten Kopfnicken erwidert. Andere Ladys wandten ertappt den Blick ab, während eine dritte Gruppe ihn weiterhin anstarrte.
Hadley drehte sich um, stieg hinter Mary die Treppe hinauf. Die Blicke seines Publikums folgten ihm stumm. Erst als er auf dem Korridor im Obergeschoss verschwunden war, ging ein fasziniertes Raunen durch die Gaststube.
Wie abwesend nahm Em es zur Kenntnis, hing in Gedanken jedoch einer Bemerkung nach, die der Mann gemacht hatte. Wenn die Kirche tatsächlich ein so ausgezeichnetes Motiv für Künstler abgab - zumal zum Zeichnen, dem sich viele Damen zum Zeitvertreib widmeten dann sollte sie zusammen mit ihrem Dienstherrn vielleicht darüber nachdenken, auf welchen Wegen sie die Aufmerksamkeit der Künstlergemeinden auf sich ziehen konnten.
Sehenswürdigkeiten innerhalb geschlossener Räume konnten zu jeder Jahreszeit gezeichnet werden. Als Em in ihr Büro zurückeilte, erwog sie die Vorteile eines stetigen Gästestroms, den es unabhängig von Wetter und Jahreszeiten in die Gegend zog.
Der Rest des Tages verlief weniger erfreulich.
Kaum hatten sie den Mittagstisch beendet, suchte Harold das Gasthaus auf, bestellte sich einen Krug Ale und setzte sich an die hintere Ecke des Tresens. Jedes Mal, wenn sie irgendwo auftauchte, schaute er mit düsterer Miene auf.
Oscar bot freundlicherweise an, ihren Onkel unmissverständlich vor die Tür zu setzen. Em dachte kurz darüber nach, lehnte dann aber ab. Sie behielt ihn besser im Blick, als ihn hinter ihrem Rücken herumschnüffeln zu lassen.
Er hockte immer noch dort, als die Zwillinge nach ihrem Nachmittagsunterricht mit Issy nach unten kamen. Issy, die hinter den Zwillingen die Treppe herunterstieg, bemerkte ihn sofort und scheuchte die Zwillinge mit der Aussicht auf köstliches Gebäck rasch in die Küche. Dort überließ sie die Mädchen Hildas mütterlichem Auge und suchte Em in ihrem Büro auf.
Em hob den Blick von ihrem Bestellbuch und nickte. »Ja, ich weiß, dass er hier ist.«
Issy zog eine besorgte Miene und wirkte hin- und hergerissen. »Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich mich mit Joshua treffe? Ich muss nicht zu ihm gehen, wenn du mich hier brauchst.«
Em schüttelte den Kopf und schloss das Buch. »Nein. Geh nur. Ich werde mit unseren beiden Teufelchen hierbleiben und dafür sorgen, dass sie nichts tun, was sie nicht tun sollten.«
Gewöhnlich unternahm Issy nach dem Unterricht der Zwillinge einen Spaziergang zum Pfarrhaus. Während Henry drinnen seine Arbeiten beendete, verbrachten Issy und Joshua ein wenig Zeit auf der Veranda. Anschließend ging Issy zusammen mit ihrem Bruder nach Hause.
Alles verlief vollkommen anständig und unschuldig. Issy hatte sich diese friedlichen und vergnüglichen Minuten verdient, nachdem sie sich den ganzen Tag um die Zwillinge gekümmert hatte.
Em stand auf und scheuchte sie fort. »Geh schon. Wir kommen wunderbar zurecht.«
Issy verzog das Gesicht. »Bist du dir ganz sicher?«
»Ganz sicher. Geh schon!« Em setzte ihre strengste Miene auf und deutete mit dem Finger zur Tür. Issy lachte und machte kehrt.
Lächelnd begleitete Em sie zur Tür und beobachtete, wie Issy den Schankraum durchquerte, das Gasthaus verließ und Harold dabei nach Kräften missachtete - oder nahm sie ihn vielleicht gar nicht wahr, weil sie sich in Gedanken bereits mit viel erfreulicheren Dingen beschäftigte, wie ihr sanftes Lächeln nahelegte?
Em verharrte in den dämmrigen Schatten des kleinen Korridors und betrachtete ihren Onkel so lange, bis sie überzeugt war, dass er ihrer Schwester nicht folgen würde.
Dann widmete sie sich erleichtert ihrer nächsten Pflicht, nämlich die Zwillinge mit irgendetwas zu beschäftigen.
Entgegen Issy Vermutung hatten die Zwillinge Harold sehr
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