Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Na, und dann, gerade als der Wagen vorfuhr, wurde Onkel von diesem scheußlichen Mr. Stone wegen irgendeiner geschäftlichen Sache weggerufen. Wenn die sich einmal zusammensetzen, dann ist kein Ende abzusehen. Ich war halb tot vor Angst. Onkel sollte doch Brautführer sein, und wenn wir uns zu sehr verspäteten, dann hätten wir noch einen ganzen Tag warten müssen. Glücklicherweise kam er aber schon nach zehn Minuten zurück, und dann fuhren wir los. Hinterher überlegte ich mir, daß es nicht sehr viel ausgemacht hätte, wenn er nicht gekommen wäre; die Trauung hätte nämlich doch nicht verschoben zu werden brauchen, denn Mr. Darcy hätte ja gut an seine Stelle treten können.«
»Darcy?« fragte Elisabeth in höchstem Erstaunen.
»Ja, Darcy. Er war mit Wickham gekommen. Du meine Güte! Das habe ich ja ganz vergessen! Ich sollte doch kein Wort davon verraten! Und ich habe es so feierlich versprochen! Was wird nur mein Mann sagen? Es sollte doch ganz geheim bleiben!«
»Wenn es geheim bleiben soll«, sagte Jane, »dann sprich nicht weiter darüber. Wir werden dich schon nicht weiter fragen.«
»Natürlich nicht!« sagte auch Elisabeth, obwohl sie kaum wußte, wie sie ihre Neugierde bezähmen sollte. »Wir wollen selbstverständlich nichts wissen, was du nicht erzählen darfst.«
»Gut!« erwiderte Lydia. »Denn wenn ihr mich gefragt hättet, würde ich euch bestimmt alles gesagt haben, und dann wäre mein lieber Mann sehr böse auf mich gewesen.«
Die Versuchung zu fragen lag nach einer solchen Ermunterung sehr nahe, und Elisabeth mußte davonlaufen, um ihr nicht zu erliegen.
Aber es war ihr natürlich unmöglich, über diesen Punkt in Ungewißheit zu verbleiben. Irgendwie mußte sie Näheres darüber zu erfahren suchen.
Mr. Darcy war auf der Hochzeit ihrer Schwester gewesen! Eine Feier, die ihn wahrhaftig nicht reizen konnte, zumal die übrigen Festteilnehmer ihn doch überhaupt nichts angingen.
Vermutungen aller Art schossen ihr wirr durch den Kopf; aber keine konnte sie befriedigen. Die sie am liebsten für wahr gehalten hätte, nämlich irgendeinen edlen, großzügigen Beweggrund, verwarf sie sogleich wieder als völlig unwahrscheinlich. Die Spannung wurde unerträglich. Sie eilte in ihr Zimmer und schrieb ihrer Tante, vielleicht konnte die ihr eine Erklärung für Darcys Anwesenheit bei Lydias Trauung geben, falls sie nicht auch ein Schweigegelübde abgelegt hatte.
»Du kannst Dir doch gut vorstellen«, schloß sie, »wie gespannt ich bin, zu erfahren, was jemand, der nichts mit uns zu tun hat, der unserer Familie — ziemlich wenigstens — fern steht, was ein solcher Mensch unter euch bei einer derartigen Gelegenheit zu suchen hatte. Bitte, schreibe mir umgehend und erkläre es mir, falls Du nicht auch einen zwingenden Grund hast, ein Geheimnis zu wahren, wie Lydia ihn zu haben scheint. Dann müßte ich eben versuchen, mich mit raten zu begnügen.«
»Damit werde ich mich natürlich nicht begnügen«, sagte sie laut zu sich selbst. »Wenn alle Stränge reißen, dann muß eben irgendeine List weiterhelfen.«
Janes Taktgefühl verbot es ihr, mit Elisabeth über diesen Gegenstand zu sprechen, und Elisabeth war froh darüber; denn solange sie nicht wußte, ob sie auf ihre Frage eine befriedigende Antwort erhalten werde, zog sie es vor, niemanden in ihr Vertrauen zu ziehen.
52. KAPITEL
Z u Elisabeths großer Freude kam postwendend Antwort von ihrer Tante. Sie eilte mit dem Brief in die kleine Gartenlaube, wo sie am ungestörtesten zu bleiben hoffte, setzte sich dort auf eine Bank und bereitete sich auf eine gute Nachricht vor; denn die Länge des Schreibens sagte ihr, daß es keine Ablehnung ihrer Bitte enthalten konnte.
›Gracechurch Street, 6. Sept.
Meine liebe Elisabeth!
Eben erhielt ich Deinen Brief und habe mich daraufhin für den ganzen Vormittag freigemacht, um ihn zu beantworten; denn das, was ich Dir mitzuteilen habe, läßt sich nicht in wenigen Worten sagen. — Ich muß gestehen, Deine Frage hat mich überrascht; gerade von Dir hatte ich sie nicht erwartet. Aber glaube nun nicht, daß ich ärgerlich bin. Ich wollte Dich nur wissen lassen, daß ich eine solche Frage von Dir für überflüssig hielt. Falls Du keine Lust hast, mich zu verstehen, dann verzeih diese Anzüglichkeit. Onkel ist aber mindestens ebenso überrascht, wie ich es bin. Er hätte niemals so gehandelt, wie er gehandelt hat, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß Du von dem Vorgefallenen unterrichtet warst.
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