Stoner: Roman (German Edition)
Falten gelegt, als versuche er, sich an etwas zu erinnern. Dann drehte er sich um, ging zu Grace’ kleinem Tisch und blieb wieder wie zuvor am eigenen Tisch einfach nur stehen. Schließlich knipste er die Lampe aus, was den kleinen Tisch grau und leblos aussehen ließ, ging zum Sofa, legte sich hin, die Augen offen, und starrte an die Zimmerdecke.
*
Das Ungeheuerliche wurde ihm erst allmählich klar, sodass es etliche Wochen dauerte, ehe er sich eingestand, was für ein Spiel Edith trieb; und als er es schließlich konnte, geschah es fast ohne jede Überraschung. Edith führte ihren Feldzug so geschickt und klug, dass er keinen vernünftigen Grund zur Klage fand. Nach dem abrupten, fast brutalen Auftritt in seinem Arbeitszimmer, der ihm im Nachhinein wie ein Überraschungsangriff vorkam, änderte Edith ihre Strategie, um nun indirekter, stiller und zurückhaltender vorzugehen. Es war eine Strategie, die sich als Liebe und Fürsorge tarnte, weshalb er sich gegen sie machtlos fühlte.
Edith war jetzt fast ständig zu Hause. Morgens und am frühen Nachmittag, wenn sich Grace in der Schule aufhielt, machte sie sich daran, Grace’ Schlafzimmer neu zu gestalten. Sie holte den kleinen Tisch aus Stoners Arbeitszimmer, strich ihn blassrosa an und beklebte den Rand der Platte mit einem breiten Band aus farblich passendem Rüschensatin, sodass er keine Ähnlichkeit mehr mit dem Tisch besaß, an den sich Grace gewöhnt hatte. Mit einer stummen Grace an ihrer Seite ging sie eines Nachmittags sämtliche Kleiderdurch, die William ihr gekauft hatte, warf das meiste davon fort und versprach ihrer Tochter, noch am Wochenende mit ihr in die Stadt zu gehen und die entsorgten Sachen durch passendere Kleidung zu ersetzen, durch »etwas Mädchenhaftes«. Und das taten sie. Am späten Nachmittag kehrte dann eine müde, doch triumphierende Edith mit einem Stapel Pakete und einer erschöpften Tochter zurück, die sich offenbar äußerst unwohl fühlte in dem neuen, steif gestärkten und mit Myriaden von Rüschen behafteten Kleid, unter dessen glockenförmigem Saum Beine dünn wie jämmerliche Stöckchen hervorlugten.
Edith kaufte ihrer Tochter Puppen und Spielzeug und blieb in der Nähe, während Grace pflichtbewusst damit spielte. Sie verordnete Klavierstunden und saß beim Üben neben ihrer Tochter auf der Bank. Aus nichtigstem Anlass organisierte sie kleine Partys, zu denen die Nachbarskinder kamen, mürrisch und verbittert, weil sie ihre steifen, besten Kleider tragen mussten. Außerdem überwachte Edith Lektüre und Hausarbeit ihrer Tochter und achtete streng darauf, dass sie nicht mehr Zeit dafür verwandte, als sie ihr zugestand.
Ediths Besucher waren jetzt Mütter aus der Nachbarschaft. Sie kamen vormittags, tranken Kaffee und redeten, solange ihre Kinder in der Schule waren; nachmittags brachten sie die Kinder mit, sahen ihnen zu, wie sie im großen Wohnzimmer spielten, und trotz des Getöses unterhielten sie sich über Gott und die Welt.
Während dieser Nachmittage saß Stoner meist am Schreibtisch und konnte verstehen, was die Mütter sagten, da sie sich quer durchs Zimmer unterhielten und die Stimmen ihrer Kinder übertönten.
Als der Lärm einmal abflaute, hörte er Edith sagen: »Die arme Grace. Sie hat ihren Vater wirklich gern, aber der findet kaum Zeit für sie. Die Arbeit, wissen Sie, und jetzt das neue Buch …«
Seltsam neugierig und doch beinahe distanziert beobachtete er, wie seine Hände, die ein Buch hielten, zu zittern begannen. Sie zitterten mehrere Sekunden lang, ehe er sie wieder in seine Gewalt brachte, indem er sie tief in die Taschen grub und zu Fäusten ballte.
Er sah seine Tochter nur noch selten. Zwar nahmen sie ihre Mahlzeiten zu dritt ein, doch wagte er bei diesen Gelegenheiten kaum, mit ihr zu reden, denn wenn er es tat und Grace ihm antwortete, fand Edith bald etwas an ihren Tischmanieren auszusetzen oder an der Art, wie sie auf dem Stuhl hockte, um sie dann so scharf zurechtzuweisen, dass Grace für den Rest der Mahlzeit nur noch stumm und deprimiert am Tisch saß.
Die schlanke Grace wurde noch schlanker, was Edith nur lachend mit den Worten kommentierte, dass sie zwar ›in die Höhe, aber nicht in die Breite‹ wachse. Ihr Blick wurde wachsam, geradezu misstrauisch; ihre Miene, früher meist ernst und ruhig, war nun entweder leicht mürrisch oder die eines ausgelassenen, übergedrehten Kindes, das sich am schmalen Rand der Hysterie entlangbewegte. Grace lächelte nur noch selten, lachte
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