Stoner: Roman (German Edition)
der Frühzeit beginnen, um mich dann chronologisch so weit vorzuarbeiten, wie es mir unsere Zeit erlaubt. Wollen Sie mir zu Beginn bitte die Grundsätze der angelsächsischen Versbildung nennen?«
»Ja, Sir«, antwortete Walker mit steinerner Miene. »Zu Anfang verfügten die in der dunklen Zeit des Mittelalterslebenden angelsächsischen Dichter nicht über die Vorteile jener Sensibilität, wie sie die späteren Dichter englischer Tradition auszeichnen. Man könnte sogar behaupten, dass Primitivität ihre Dichtung charakterisiert, doch deutet sich in diesem Primitiven durchaus Potenzial an, auch wenn dies manchen Blicken verborgen bleiben mag, ein Potenzial zur Subtilität von Gefühlen, wie sie …«
»Bitte, Mr Walker«, unterbrach ihn Stoner. »Ich habe nach den Grundsätzen der Versbildung gefragt. Können Sie mir die bitte nennen?«
»Nun, Sir«, antwortete Walker, »die ist noch recht grob und unregelmäßig. Die Versbildung, meine ich.«
»Ist das alles, was Sie mir darüber sagen können?«
»Mr Walker«, mischte sich Lomax rasch ein – ein wenig bestürzt, wie Stoner fand –, »dieses Grobe, von dem Sie sprechen – könnten Sie dies vielleicht näher bezeichnen, indem Sie …«
»Nein«, unterbrach ihn Stoner bestimmt, ohne jemanden anzuschauen. »Ich möchte, dass meine Frage beantwortet wird. Ist das alles, was Sie mir über die angelsächsische Versbildung sagen können?«
»Nun, Sir«, sagte Walker und lächelte, doch kippte sein Lächeln in ein nervöses Kichern um. »Ehrlich gesagt habe ich den vorgeschriebenen Kurs in angelsächsischer Literatur noch nicht belegt und zögere jetzt, über solche Themen ohne die nötige Autorität zu reden.«
»Also gut«, sagte Stoner. »Überspringen wir die angelsächsische Literatur. Nennen Sie mir ein mittelalterliches Theaterstück, das Einfluss auf die Entwicklung des Theaters in der Renaissance hatte.«
Walker nickte. »Natürlich. Alle Theaterstücke des Mittelaltershaben auf je eigene Weise zur vollendeten Theaterkunst der Renaissance beigetragen, wobei es schwerfällt zu begreifen, wie aus dem kargen Boden des Mittelalters nur wenige Jahre später das shakespearische Drama erblühen konnte und …«
»Ich stelle Ihnen einfache Fragen, Mr Walker, und muss auf einfache Antworten bestehen. Doch lassen Sie mich meine Bitte noch simpler formulieren. Nennen Sie mir drei Theaterstücke des Mittelalters.«
»Frühes oder spätes Mittelalter, Sir?« Er hatte die Brille abgesetzt und putzte sie hektisch.
»Egal, Mr Walker.«
»Es gibt so viele«, sagte Walker, »da fällt es schwer … Da wäre das Mysterienspiel Jedermann …«
»Können Sie noch zwei weitere nennen?«
»Nein, Sir«, erwiderte Walker. »Ich muss gestehen, dass ich auf diesem Gebiet nicht besonders firm bin …«
»Können Sie irgendeinen anderen Titel – nur den Titel – eines literarischen Werkes des Mittelalters nennen?«
Walkers Hände zitterten. »Wie gesagt, Sir, ich muss eine gewisse Schwäche auf diesem Gebiet gestehen, die …«
»Dann lassen Sie uns zur Renaissance weitergehen. Mit welchem Genre dieser Zeit fühlen Sie sich am besten vertraut, Mr Walker?«
»Mit …«, Walker zögerte und warf Lomax ganz gegen seinen Willen einen flehentlichen Blick zu, »… mit dem Gedicht, Sir. Oder … dem Theater. Doch, vielleicht eher mit dem Theater.«
»Nun gut, das Theater also. Wie heißt die erste in Blankversen geschriebene Tragödie des englischen Theaters, Mr Walker?«
»Die erste?« Walker leckte sich über die Lippen. »Die Gelehrtenmeinung ist in dieser Frage zerstritten, Sir, weshalb ich zögere …«
»Können Sie mir irgendein Theaterstück vor Shakespeare von irgendeiner Bedeutung nennen?«
»Aber sicher, Sir«, antwortete Walker. »Da wäre Marlowe … der mächtige Einfluss …«
»Nennen Sie mir einige Stücke von Marlowe.«
Mit einiger Mühe riss Walker sich zusammen. »Da hätten wir natürlich sein zu Recht berühmtes Stück Dr. Faust . Und … und … Der Jude von Malfi .«
» Faustus und Der Jude von Malta also. Können Sie mir noch eines nennen?«
»Ehrlich gesagt, Sir, das sind die einzigen beiden Stücke, die ich im letzten Jahr erneut lesen konnte, weshalb ich es vorziehen würde …«
»Also schön. Erzählen Sie mir etwas über Der Jude von Malta .«
»Mr Walker!«, rief Lomax dazwischen. »Lassen Sie mich die Frage ein wenig vertiefen. Wenn ich darf, dann …«
»Nein!«, unterbrach ihn Stoner grimmig, ohne Lomax anzuschauen. »Ich möchte
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