Straße der Toten
willst.«
Doc sah sie an und grinste. »Vielleicht hab ich dann immer noch nichts zu erzählen, aber« – er wandte sich dem Reverend zu – »ich wüsste Ihre Gesellschaft sicher zu schätzen, Reverend. Schauen Sie doch noch mal vorbei. Dann könnte ich mich mal mit jemand anderem unterhalten als den Leuten hier. Wir haben uns alle nicht mehr sonderlich viel zu erzählen. Und so früh im Jahr taugt nicht mal die Maisernte als Gesprächsthema. Nur das Wetter. Und da reicht ein Wort: heiß. Vielleicht finden wir beide etwas Neues, über das es sich zu reden lohnt.«
»Ja, vielleicht«, sagte der Reverend. »Ich lasse mir Ihre Einladung durch den Kopf gehen. Allerdings weiß ich noch nicht, wann wir zurückkommen. Es wird nämlich eher ein Arbeitsausflug für mich – wenn Abby das recht ist.«
»Ja, natürlich«, sagte sie, »solang ich nicht arbeiten muss.«
»Müssen Sie nicht«, sagte der Reverend.
»Gut«, sagte sie und zwinkerte ihrem Vater zu. »Mein alter Herr lässt mich schon genug schuften.«
»Ich treffe mich mit einem jungen Mann«, sagte der Reverend und erläuterte dann sein Vorhaben, mit David die Zeltstangen zu besorgen.
»Einen jungen Mann darf man nicht warten lassen, oder?«, sagte Abby. »Ich kümmere mich um die Sachen fürs Picknick, aber vorher bringe ich Sie noch hinaus.«
Vier
Abby begleitete den Reverend hinaus auf die Straße.
»Ich hoffe, Sie kommen nachher wirklich noch auf einen Kaffee mit rein«, sagte sie.
»Nach diesem Tag haben Sie bestimmt genug von mir«, sagte der Reverend.
»Das glaube ich kaum.«
Der Reverend fühlte sich in ihrer Gegenwart allmählich wohler und auch zu ihr hingezogen. Er stellte sogar fest, dass er ziemlich oft lächelte. Da er dies in den letzten Jahren so selten getan hatte, schmerzten ihm davon die Wangen. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Hotel, stand ein Wagen. Auf dem Kutschbock saß David und beobachtete sie. Mit einem Gesicht, als hätte er einen Käfer verschluckt.
»Ich hol das Essen fürs Picknick«, sagte Abby und berührte kurz den Arm des Reverend, bevor sie sich abwandte und in der Gasse neben der Arztpraxis verschwand.
Der Reverend ging zu David hinüber und sah zu ihm auf.
»Sie kommt mit, stimmt’s?«, sagte David.
»Wenn du nichts dagegen hast«, erwiderte der Reverend.
»Selbst wenn ich was dagegen hab, oder?«
Der Reverend überlegte einen Augenblick. »Weißt du was, wenn sie uns auf den Senkel geht, dann können wir sie ja immer noch als Zielscheibe benutzen.«
David konnte nicht anders, er musste lächeln.
Fünf
Als Abby mit dem Picknickkorb zurückkehrte und sie alle auf den Wagen stiegen, entspannte sich David ein wenig. So ging es jedem mit Abby. Sie war einfach äußerst entwaffnend und stets guter Laune. Im Gegensatz zum Reverend und zu David. Es tat ihren düsteren Gemütern gut, sie um sich zu haben. Während der Reverend den Wagen aus der Stadt lenkte, fühlte er sich unwillkürlich ein bisschen wie ein Familienvater, der mit Frau und Sohn einen Ausflug unternimmt. Ein schönes Gefühl, das ihn aber auch verunsicherte.
Auf den ersten drei oder vier Meilen folgten sie dem Postkutschenweg und hielten dann am Straßenrand. Der Reverend nahm das Unterholz in Augenschein.
»Du hast doch hoffentlich eine scharfe Axt dabei?«, sagte der Reverend.
»Ich hab zwei dabei«, antwortete David. »Eine für Sie, eine für mich.«
»Gut«, sagte der Reverend. »Ich zeig dir, wie man das macht.«
»Das möcht ich sehen«, antwortete David.
»Jungens, Jungens«, sagte Abby.
Der Reverend und David fällten und entrindeten Bäume und luden das Holz auf, bis es Mittag war. Abby saß im Schatten und las einen Groschenroman; hin und wieder musste sie laut kichern.
Zum Mittagessen breiteten sie eine karierte Decke auf dem Erdboden aus, und Abby holte den Picknickkorb. Es gab Brathähnchen mit selbstgebackenem Brot, und sie tranken Eistee aus einem Krug, in dem die meisten Eisbrocken schon geschmolzen waren. Alles schmeckte wunderbar.
Zur Überraschung des Reverend ging alles gut. Er und Abby fanden eine Menge, worüber sie sich unterhalten konnten. Bücher zum Beispiel. Beide hatten sie eine Menge gelesen, wobei sie eine Vorliebe für Groschenromane hatte, mit denen er gar nichts anfangen konnte. David beteiligte sich ebenfalls lebhaft an dem Gespräch, auch wenn er kaum etwas gelesen hatte. Aber er hatte einen wachen Verstand, und außerdem kannte er alle schmutzigen Geheimnisse der Leute im Ort, und Abby kitzelte
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