Straße in die Hölle
Gebbhardts Stimme schwankte. »Ich habe alles versucht. Eine Stunde lang habe ich mit der deutschen Botschaft in Rio telefoniert. Sie können uns nicht helfen. Es sei eine innerbrasilianische Angelegenheit, sagen sie. Ich soll mich da raushalten als Deutscher. Aber ich gebe nicht auf.«
»Was willst du denn sonst noch tun, Carlito?« Sie küßte ihn, und es war, als tröste sie jetzt ihn. »Sie machen also doch einen Prozeß? Das beruhigt mich. Es wäre schrecklich gewesen, einfach in aller Stille liquidiert zu werden. Alle sollen hören und sehen, mit welchem Stolz wir sterben können.«
»Das ist alles, woran du denkst?«
»Denken?« Sie streichelte sein zuckendes Gesicht und schaute an ihm vorbei auf die tropfnasse, schimmelnde Wand. »O nein … in Gedanken bin ich in einer ganz anderen Welt. Gedanken und Träume sind etwas Herrliches, wenn man weiß, daß sie Phantasien bleiben, mit denen man sich umhüllen kann wie mit königlichen Gewändern. Weißt du, was ich sehe? Ein Haus irgendwo in einem friedlichen Land. Ein berühmter Konstrukteur, eine Frau, und zwei, drei Kinder, die meine Augen und deinen Mund haben. Eine glückliche Familie in einer paradiesischen Welt …«
»Norina«, stammelte er. »Es hätte so sein können, vor zwei Tagen noch … wir hatten die Chance.«
»Nein.« Sie legte den Kopf an seine Brust und umschlang ihn mit beiden Armen. »Wir hatten nie diese Chance. Es war immer nur ein Traum. Wenn wir uns vor einem halben Jahr begegnet wären, in Rio oder Brasilia … damals vielleicht. Aber als ich mit Santaluz bei euch im Lager eintraf, gab es kein Zurück mehr. Ich hatte meinen Auftrag, und alles, was jenseits dieses Auftrages lag, blieb Sehnsucht.« Sie hob den Kopf, ihre schwarzen Augen glänzten, und zum erstenmal sah Gebbhardt, daß sie weinte. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte sie leise. »Jetzt machst du mir das Sterben schwer.«
»Du bist noch nicht verurteilt.« Montag, sechs Uhr früh, beginnen die Hinrichtungen, dachte er. Zwei Tage nur noch, davon ein Tag mit einem lächerlichen Prozeß. Eine Gerichtsverhandlung, um den Schein des Rechts zu wahren, dabei lagen die Urteile schon fertig vor. Was kann man in zwei Tagen tun?
An der eisernen Tür klopfte es einmal von außen. Sie zuckten zusammen und umklammerten sich wieder. Die Zeit rannte ihnen davon. Was ist eine Viertelstunde beim Abschied für immer?
»Geh«, sagte Norina tapfer. Sie wischte ihre Tränen an Gebbhardts Jacke ab und lächelte ihn an. »Dreh dich nicht um, wenn du hinausgehst. Ich will deine Augen nicht mehr sehen. Bitte.«
»Ich hole dich hier heraus!« sagte Gebbhardt heiser. »Ich werde heute noch nach Rio fliegen und –«
»Sie werden dich nicht weglassen, Carlito.« Die Tür ging kreischend auf. Der Soldat steckte den Kopf in die Zelle. Er winkte, und Norina nickte ihm zu.
»Leb wohl, mein Liebling«, sagte sie. »Unser Schicksal teilen wir mit vielen. Es wird immer Männer und Frauen geben, die das Schicksal auseinanderreißt.« Mit einem Ruck entzog sie sich ihm, stieß ihn mit beiden Fäusten von sich und lief zu ihrer Pritsche. »Und nun geh endlich!« schrie sie. »Geh!«
Gebbhardt wollte noch etwas sagen, aber der Soldat zog ihn an der Jacke aus der Zelle. Er taumelte in den Gang, die Tür fiel zu, und der Riegel schob sich quietschend in die Halterung. »Noch eine Minute«, bettelte Gebbhardt wie ein Kind. »Eine einzige Minute. Bitte.«
Der Soldat blickte ihn abweisend an. »Sie werden erwartet, Senhor«, sagte er und machte ein Zeichen. Gebbhardt fuhr herum. Hinter ihm stand eine lange dürre Gestalt in einer schwarzen, bodenlangen Soutane. Ein junges Gesicht, sehr ernst und trotz seiner Jugend wie ein verwitterter Stein.
»Pater de Sete«, sagte der Priester.
Ober Gebbhardts Rücken zogen eisige Schauer. Der Priester für den letzten Gang. Welch ein Hohn. Man tötete und hielt dabei das Kreuz hoch.
»Ist das wirklich Gottes Wille?« fragte Gebbhardt hart. »Können Sie darauf eine Antwort geben, Pater?«
»Ja.« Pater de Sete wies den Gang hinunter. »Bitte, begleiten Sie mich nach draußen. Ich habe mit Ihnen zu reden.«
Aber es klang nicht wie eine Bitte, es hörte sich eher wie ein Befehl an. Verwundert folgte Gebbhardt dem Priester. Sie gingen den Gang hinunter und stiegen die gemauerte Treppe hinauf ans Licht.
Paulo Alegre hatte Brasilia erreicht.
Man frage nicht danach, wie er es schaffte. In ihm war alles Menschliche gestorben, und er zog seinen Weg wie ein
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