Straße in die Hölle
war Gebbhardt bei ihr und riß sie an sich. Ihr Gesicht, im fahlen Licht des Mondes wie mit einer Totenhaut überzogen, schien ihm so klein und kindlich, daß er erschrak. Dann erst sah er, daß sie weinte … lautlos, regungslos. Die Tränen flossen wie Bäche, strömten aus ihr heraus wie aus einer Quelle, und er wußte, warum sie so weinte. Er fand aber keine Worte, sie zu trösten.
Sie lebte, und sie würde weiterleben – in Uruguay, später in Deutschland, und sie würde ihn, Carlito, ihren Mann lieben, ihm eine gute Frau sein, eine leidenschaftliche Geliebte, eine gute zärtliche Mutter seiner Kinder … aber sie würde es immer nur mit einem Teil ihres Herzens sein. Ein Teil ihrer Seele, ihres Wesens, ihrer Liebe, ihrer Persönlichkeit, ihres ganzen Menschseins würde in Brasilien bleiben, und mit ihm die Sehnsucht nach der Heimat, nach den Wäldern und den riesigen Flüssen, den Plantagen und den weißen Stränden. Darum weinte sie, und es gab keine Worte, die sie zu trösten vermochten.
»Fahren wir«, sagte Gebbhardt leise. Er kletterte auf den Sitz, umklammerte das Lenkrad und legte den Gang ein. Als der kleine Jeep anruckte und vorwärtsrollte, legte Norina ihren Kopf an seine Schulter und umfaßte ihn. Sie drückte sich so fest an ihn, daß es ihn schmerzte. Sie krallte die Fingernägel in seinen Rücken und biß ihm aus Verzweiflung in den Oberarm.
Gebbhardt wendete, gab Gas und raste der Stadt Ceres entgegen.
Drei Stunden Vorsprung! Um vier Uhr wurde Alarm gegeben. Was aber waren drei Stunden in einem Land, das zehnmal so groß wie Deutschland ist?
»Was ist die nächste Station?« fragte er laut.
Der Druck ihrer Fingernägel ließ nach. Sie hob den Kopf, strich das Haar aus dem Gesicht und wischte sich mit beiden Handrücken die Tränen weg.
»Ein Mann namens Goia Lorenzo in Itaberai.« Ihre Stimme war fest und erstaunlich klar und nüchtern. »Am Markt in Ceres mußt du rechts abbiegen auf die Straße nach Goiania.«
»Und dann?«
»Weiter über die Straße bis Campo Grande. Dort können wir uns entscheiden, wo wir hinwollen, ob nach Paraguay oder Uruguay.«
»Und wo möchtest du hin, Norina?«
Sie blickte ihn kurz an, und ihre schwarzen Augen waren wieder so, wie er sie kannte: Mutig, überlegen, voll rätselhafter Kraft. »Spielt das noch eine Rolle, Carlito?« sagte sie nach einer Weile. »Überall fliegen Flugzeuge nach Deutschland.«
»Wenn du willst, bleiben wir hier«, sagte er stockend.
Sie schüttelte den Kopf und streichelte flüchtig sein Gesicht. »Nein. Warum, Carlito? Ich liebe dich. Ich werde mich daran gewöhnen, zu dir und nicht zu einer Idee zu gehören.«
Es war eine Kapitulation vor sich selbst. Gebbhardt spürte es und hütete sich, dazu etwas zu sagen. Jedes Wort zerstört jetzt nur, dachte er. Sie nimmt Abschied von Brasilien und wird ganz meine Frau. Das ist ein Glück, so unfaßbar wie Gott selbst.
Er beugte sich vor, starrte auf die vom Mond in weißes Licht getauchte Straße und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag hinunter.
Um sechs Uhr morgens betrat Dr. Santaluz als erster den Hof und ging hinüber zu den Erschießungspfählen. Pater de Sete schritt neben ihm und betete.
Auf der Tribüne saßen in vier Reihen die Zuschauer. Offiziere, hohe Staatsbeamte, der Bürgermeister von Ceres, einige Herren vom Geheimdienst, zwei Generäle aus Brasilia und drei Vertreter von Ministern. Die Kaserne war hermetisch abgeriegelt, Fallschirmjäger hatten einen Kordon um das ganze Viertel gezogen. Aber es kam zu keinen Demonstrationen. Die Angst beherrschte die Stunde.
Um sechs Uhr neun begannen die Trommeln zu wirbeln, das Erschießungskommando legte die Gewehre an. Dr. Santaluz hatte die Augenbinde abgelehnt. Stolz blickte er in die auf ihn gerichteten Läufe. Pater de Sete stand fünf Meter seitlich der Pfähle und hob die Bibel hoch in den vom Morgenrot entflammten Himmel. Die vier anderen Delinquenten neben Dr. Santaluz begannen zu brüllen.
»Es lebe Brasilien! Es lebe die Freiheit!«
Dann zerriß das Krachen der Salve das letzte Wort.
Dr. Santaluz lebte noch und mußte aus der Pistole des kommandierenden Offiziers den Fangschuß erhalten. Pater de Sete stand daneben und streckte die Hand vor, und über die Bibel hinweg schoß der Offizier Dr. Santaluz in den Kopf.
Und niemand achtete in diesem Moment auf die Augen des jungen Priesters.
Nach knapp zwei Wochen erreichten Gebbhardt und Norina das Dorf Ypé-Ihui – einen armseligen Haufen Häuser jenseits der
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