Streiflichter aus Amerika
Rasenflächen und grüne Wohnstraßen. Kurz und gut, es ist ein reizendes Städtchen, in dem man nett Spazierengehen kann, und fast alle Einwohner wohnen so, daß sie zu den Läden nicht länger als fünf Minuten laufen müssen. Doch soweit ich sehe, läuft keiner.
Wenn ich nicht verreist bin, gehe ich fast jeden Tag ins Zentrum. Entweder zur Post oder zur Bücherei oder in unseren Buchladen, und wenn ich mich besonders kosmopolitisch fühle, besuche ich Rosey Jekes Café und gönne mir einen Cappuccino. Alle paar Wochen suche ich den Friseursalon auf und lasse einen von den Jungs dort etwas Unbesonnenes und Dynamisches mit meinen Haaren anstellen. All das nimmt einen Großteil meines Lebens in Anspruch, und ich würde nicht im Traum daran denken, es anders als zu Fuß zu erledigen. Mittlerweile haben sich die Leute an mein kurioses, exzentrisches Verhalten gewöhnt, aber am Anfang fuhren die Nachbarn langsam an den Bordstein und fragten, ob sie mich mitnehmen sollten.
»Ich fahre in Ihre Richtung«, erwiderten sie immer, wenn ich höflich ablehnte. »Wirklich, das macht keine Mühe.«
»Aber ich gehe gern zu Fuß.«
»Na, wenn Sie meinen«, sagten sie dann und fuhren zögernd, ja sogar schuldbewußt weiter, als begingen sie Fahrerflucht.
Die Leute hier haben es sich derartig angewöhnt, stets das Auto zu benutzen, daß sie nie auf die Idee kommen würden, mal ihre Beine in Bewegung zu setzen und zu sehen, was die alles können. Manchmal ist es geradezu grotesk. Neulich war ich in der kleinen Stadt Etna hier in der Nähe und wartete auf eines meiner Kinder, das ich von der Klavierstunde abholen wollte. Da hielt ein Auto vor der Post, und ein Mann in etwa meinem Alter sprang heraus, eilte hinein und ließ den Motor laufen – auch etwas, das mich immer auf die Palme bringt. Nach ungefähr drei oder vier Minuten kam er wieder heraus, stieg in den Wagen und fuhr genau vier Meter achtzig (da ich nichts Besseres zu tun hatte, habe ich es abgeschritten) zum Tante-Emma-Laden daneben, lief wieder hinein und stellte den Motor natürlich wieder nicht ab.
Dabei sah der Mann total fit aus. Ich bin sicher, er joggt kilometerlange Strecken, spielt Squash und macht allerlei irrsinnig gesunde Dinge. Aber ich bin genauso sicher, daß er zu all diesen Aktivitäten mit dem Auto fährt. Es ist verrückt. Neulich klagte eine Bekannte von uns über die Schwierigkeit, vor der hiesigen Sporthalle einen Parkplatz zu finden. Sie geht mehrere Male die Woche dorthin, um auf einem Laufband zu joggen. Die Sporthalle ist allerhöchstens sechs Minuten Fußweg von ihrer Haustür entfernt. Ich fragte sie, warum sie nicht zu Fuß dorthin gehe und sich sechs Minuten weniger auf dem Laufband schinde.
Woraufhin sie mich anschaute, als sei ich ein tragischer Fall von Minderbemitteltheit, und sagte: »Aber ich habe ein Programm für das Laufband. Es zeichnet die zurückgelegte Strecke und die Geschwindigkeit auf, und ich kann es auf verschiedene Schwierigkeitsgrade einstellen.« Wie gedankenlos und unzulänglich die Natur in dieser Hinsicht ist, war mir bis dato noch gar nicht aufgefallen.
Laut einem besorgten und leicht entsetzten Leitartikel im Boston Globe geben die Vereinigten Staaten weniger als ein Prozent ihres jährlich fünfundzwanzig Milliarden Dollar umfassenden Straßenbaubudgets für Fußgängereinrichtungen aus. Mich überrascht, daß es so viel ist. Geht man durch die in den letzten dreißig Jahren entstandenen städtischen Vororte – und man kann unter Tausenden wählen –, findet man fast nirgendwo einen Bürgersteig. Oft nicht einmal einen einzigen Fußgängerüberweg. Und ich übertreibe nicht.
Letzten Sommer mußte ich das wieder einmal am eigenen Leibe erleben, als wir durch Maine fuhren und in einer dieser endlosen
Anlagen mit Einkaufszentren, Motels, Tankstellen und Fast-food-Buden, die heutzutage überall in den USA aus dem Boden schießen, einen Kaffee trinken wollten. Als ich auf der anderen Straßenseite eine Buchhandlung sah, beschloß ich, den Kaffee zu lassen und hinüberzuspringen. Ich brauchte ein bestimmtes Buch und wollte meiner Frau die Chance geben, ein wenig wertvolle Freizeit mit ihren vier widerspenstigen, aufgedrehten Sprößlingen zu verbringen.
Obwohl der Buchladen nicht weiter entfernt war als fünfzehn, zwanzig Meter, gab es keine Möglichkeit, ihn zu Fuß zu erreichen. Eine Abfahrt für Autos war da, aber keinerlei Weg für Fußgänger, das heißt, keine Chance, die dreispurige Straße zu
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